Chamonix – Les Houches (8 km / 118 Hm)
Oli und ich sind nach 17:30 Uhr beim Start. Der Kirchplatz ist aber bereits so überfüllt, dass wir hinter einer Hausecke anstehen müssen und nicht nach vorne zum Startbogen sehen. Ich bin sehr ruhig und gespannt, wie sich der Lauf entwickeln wird. Das traditionelle „Conquest of Paradise“ ertönt, Oli und ich wünschen uns ein gutes Rennen und pünktlich um 18:00 Uhr erfolgt der Startschuss.
Die Stimmung in Chamonix ist wirklich einzigartig. Rund 2500 Läuferinnen und Läufer zwängen sich durch die Zuschauer, welche eine nur so 2-3 Meter breite Gasse bilden. Das hat zur Folge, dass ich erst nach ungefähr 10 Minuten zum ersten Mal ins joggen komme. Vorher ist einfach zu viel Stau und marschieren angesagt.
Ausserhalb von Chamonix zweigt die Strecke dann von der Hauptstrasse ab und führt durch den Wald, entlang der Talseite in Richtung Les Houches. Es ist ziemlich hektisch, da sich das Feld zuerst einsortieren muss. Einige überholen, andere muss man überholen. Ich fühle mich soweit gut und laufe eine komfortable Pace. Der Puls ist aber der Anstrengung entsprechend viel zu hoch. Ich führe dies auf die recht hohen Temperaturen zurück. Ich bin froh, dass es bald eindunkeln und abkühlen wird.
Nach ziemlich genau einer Stunde bin ich in Les Houches. Die Verpflegung kann ich auslassen. Ich habe noch genügend Wasser um bis Saint-Gervais zu kommen.
Les Houches – Saint-Gervais (21 km / 951 Hm)
Bald nach Les Houches geht es in die Steigung nach Le Délevret. An den Engstellen gibt es immer wieder kurz Stau. Stresst mich aber nicht gross, da das Rennen ja noch sehr lange dauert und ich keinen Grund zur Eile habe. Wenn es dann läuft, finde ich es fast hektischer. Sieht man nach vorne oder hinten sieht man einfach die endlose Läuferschlange.
Zwischendurch hat es Menschengruppen an der Strecke. Der UTMB ist etwas wie ein grosses Volksfest und die Leute feiern die Läufer an den entsprechenden Stellen an.
Wir sind hier in einem Skigebiet und es geht die Skipisten hoch und unter Liftanlagen durch. Dann haben wir die erste Steigung mit rund 800 Höhenmetern bezwungen und es geht abwärts Richtung Saint-Gervais. Bereits vor 21:00 Uhr muss ich die Stirnlampe montieren. Die Tage sind nun schon merklich kürzer. Dafür wird es nun hier oben und durch das eindunkeln etwas kühler. Ich kann aber immer noch ohne Probleme kurzärmlig laufen.
Mein Magen fühlt sich nicht so toll an. Im Downhill bekomme ich dann Bauchkrämpfe und es wird immer unangenehmer. Ich will in Saint-Gervais eine Toiletten-Pause machen und hoffe, es wird dann mit dem Bauch besser. Schlussendlich schaffe ich es nicht bis ins Tal und muss zwischendurch austreten und meinen Darm zünftig leeren. Leider tritt die Erleichterung nicht wirklich ein. Die Krämpfe sind zwar weg, ich habe aber das Gefühl eines Hungerastes, irgendwie schwächlig und mir ist leicht schlecht. Bergab geht es aber und ich bin froh, als ich nach etwa 3:20h die Verpflegungsstation erreiche. Ich fülle meine Wasserflaschen und nehme mir eine Schale mit Nudelsuppe. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, setze ich mich kurz hin und schlürfe die Suppe runter. Dann geht es wieder weiter.
Saint-Gervais – Les Chapieux (49 km / 2823 Hm)
Die nächsten 10 km bis Les Contamines steigt die Strecke ständig leicht an. Das passt mir, denn dann muss ich nicht laufen, sondern kann marschieren. Und das liegt mir glaube ich gut. Ich nehme noch eine Kapsel gegen Übelkeit. Unterwegs zu verpflegen habe ich keine Lust, bzw. getraue ich mich nicht. In Les Contamines wieder Wasser auffüllen und Nudelsuppe essen. Dazu nehme ich ein Stück Brot. Der Andrang an den Verpflegungsstellen ist immer riesig und es ist für mich schwierig zu erfassen, was überhaupt alles angeboten wird.
Ich liege ca. 30 Minuten hinter meinem Zeitplan. Das bedeutet, dass ich in Les Contamines nur gut 40 Minuten vor der Cut-off-Zeit liege. So knapp bin ich mir das nicht gewohnt. Dies ist aber der UTMB und kein Kindergarten. Jeder Läufer hat schon mehrere schwere Trailrennen absolviert, nur um sich für den UTMB zu qualifizieren.
Es geht dann weiter mässig aufwärts bis Notre-Dame de la Gorge. Ab dort wird die Strecke steiler, hoch zum Col du Bonhomme. Bei Notre-Dame de la Gorge brennt das traditonelle UTMB-Lagerfeuer, welches von Zuschauern unterhalten wird. Ich habe dies schon in youtube-Videos gesehen und dann ist es natürlich ein spannender Moment, wenn man tatsächlich da durchläuft.
Ebenfalls sensationell und legendär ist die endlose Lichterkette der Stirnlampen, hoch zum Col du Bonhomme. Kilometerweit nach vorne und hinten einfach ein Licht am anderen. Ich habe aber nicht gross Zeit, den Anblick zu geniessen. Die meiste Zeit gilt die Aufmerksamkeit den Füssen des Vordermannes, um im Schein der Stirnlampe zu erkennen, wo man am besten seine Schritte setzt. Höhenmeter um Höhenmeter geht es so nach oben, bis auf 2439müM, das Refuge de la Croix du Bonhomme erreicht ist. Es ist kurz vor 3:00 Uhr morgens, als ich dort ankomme.
Den Magen spüre ich nicht mehr negativ. Die grosse Müdigkeitskrise, wie ich sie bei den 100km von Biel zu dieser Nachtzeit schon hatte, ist auch nicht eingetreten. Ich entschliesse mich aber trotzdem, in Les Chapieux ein 20 Minuten-Powernap zu machen. Ich will damit ein bewusstes Break setzen und nachher praktisch ein neues Rennen in den anbrechenden Tag starten. Um 4:00 Uhr, nach 10 Stunden im Rennen, komme ich in Les Chapieux an. Ich überlege mir, dass ich beim Swissalpine nach dieser Zeit im Ziel war und das Gefühl hatte, genug für einen Tag gemacht zu haben. Hier habe ich erst ca. einen Viertel des Rennens und ein Ende ist noch überhaupt nicht absehbar. Cut-Off-Zeit ist hier 5:15 Uhr, ich habe also rund 75 Minuten Zeit, bis ich den Posten wieder verlassen haben muss. So lange will ich aber nicht bleiben.
Der Ablauf an der Verpflegung wieder der selbe. Wasser trinken und Flaschen füllen. Dann Nudelsuppe holen. Dann absitzen und Nudelsuppe schlürfen. Als ich fertig bin, suche ich den Ruheraum auf. Wie damals beim Irontrail in Maloja, sind alle Matratzen besetzt. Heute ist das aber kein Grund, auf den Powernap zu verzichten. Ich will mir einfach einen Platz zwischen den Matratzen suchen. Da werde ich aber von einer Betreuerin, Typ Feldwebel zurückgepfiffen. Ich muss mich bei ihr mit Startnummer und gewünschter Pausenzeit registrieren. Wenn dann ein Platz frei wird, teilt sie mir diesen zu. – Klare Regeln hier!
Es sind noch zwei Läufer vor mir in der Schlange. Ich schaue mich im Raum um und entdecke oh Schreck: Oli! – Er sieht mich auch und fragt wie es mir geht. „Gut, aber ich will kurz Pause machen. Und dir?“ – „Schlecht. Kann nicht essen. Magenprobleme. Weiss nicht, ob ich weiter kann.“ – Bald bekomme ich meinen Platz und erfreulicherweise direkt neben Oli. Ich stelle den Timer meiner Uhr auf 20 Minuten und versuche etwas Ruhe zu finden. Irgendwann dauert mir das etwas lange und ich kontrolliere die Uhr. Doch, erst 15 Minuten, ich kann noch 5 Minuten ruhen. Die geniesse ich! Dann wieder aufrappeln. Nicht das einfachste. Ich frage Oli, ob er mitkommt. Er will nicht und spricht vom aufgeben. Ich will ihm eine Anti-Übelkeits-Kapsel geben. Hat er von der Sanität schon bekommen. Ich sage, er soll noch 30 Minuten ruhen und dann vor Ablauf der Cut-Off-Zeit nochmals versuchen, weiter zu laufen. Dann verabschieden wir uns und ich gehe wieder in die Nacht hinaus.
Les Chapieux – Lac Combal (66 km / 4052 Hm)
Um 4:30 Uhr mache ich mich wieder auf den Weg hoch Richtung Col de la Seigne. Ich bin 45 Minuten unter der Cut-Off-Zeit. Immer noch nicht viel Reserve. Ich hoffe ich kann diese wieder ausbauen. Wie erwartet friere ich nach dieser Ruhepause. Präventiv habe ich mir schon mal die Ärmlinge übergezogen. Vor verlassen der Station gibt es noch eine Materialkontrolle. alle Läufer müssen Natel, wasserdichte Jacke und die Sonnenmütze zeigen. Hab ich alles griffbereit und so geht es rasch raus.
Mental versuche ich mir einzureden, ich würde jetzt um 4:30 Uhr zum Eiger Ultra starten. Ich würde bis Mitternacht 100km laufen. (Falls ich das schaffen würde, wären dann nur noch 20km vom UTMB übrig.) Die nun folgende Strecke ähnelt dann auch tatsächlich dem Aufstieg zur Grossen Scheidegg.
Es geht zuerst durch ein Tal immer leicht aufwärts bis La ville des Glaciers. Schon nach wenigen Minuten bin ich wieder auf Betriebstemperatur und friere nicht mehr. Die Nacht ist sehr mild, der Himmel wolkenlos und voller Sterne. Die Pause hat mir gut getan. Ich bin mental fit und körperlich habe ich auch keine Beschwerden. Wir marschieren anfangs auf einer Asphaltstrasse und ich kann einige Läufer überholen. Da die Strasse sehr eben ist und es immer Läufer rundherum hat, schalte ich meine Stirnlampe aus. So kann ich die Sterne besser sehen und spare erst noch Batterie. Dies ist eine Phase, während der ich wirklich die Natur geniessen kann.
Dann wird die Asphaltstrasse zum Naturweg und nachher zum Singletrail. Parallel zu dieser Entwicklung wird der Trail auch immer steiler. Ich laufe auf einen Italiener auf und habe das Gefühl, stärker zu sein als er. Trotzdem entscheide ich mich aber hinten dran zu bleiben. Dies erweist sich als sehr gute Entscheidung. Er hat einen sicheren und gleichmässigen „Bergführerschritt“ und zieht mich über mehrere hundert Höhenmeter hoch zum Col de la Seigne. Ich habe das Gefühl er wird immer schneller, kann aber gut dranbleiben. Bei den kühleren Temperaturen verhält sich auch mein Puls wieder normal. Kurz vor dem Col kann ich dann meine Stirnlampe ausschalten und wegnehmen. Der neue Tag erwartet uns hinter der Passhöhe. Ein wunderschöner Moment. Ich fühle mich so gut, dass ich sogar Lust auf ein Knoppers habe und dies bei der Passhöhe verzehre. Ich bedanke mich beim Italiener und rein gehts in den Downhill.
Unten im Tal ist noch Hochnebel, wir starten über dem Nebelmeer in den Tag. Was will man mehr?
Nach kurzem Downhill geht es gleich wieder hoch zum Col des Pyramides Calcaires. Ich habe nur das Höhenprofil, aber keine Karte und habe keine Ahnung, wo wir uns befinden. Spielt aber keine Rolle, den man folgt einfach dem Vordermann. Die Strecke ist tiptop markiert. Nur brauche ich gar nie eine Markierung zu suchen, da es so viele Leute hat. Sowohl Up-, wie auch Downhill des Col des Pyramides Calcaires sind stark verblockt. Das macht langsam, braucht Nerven und gibt immer wieder kurze Staus. Und dies nach über 60 gelaufenen Kilometern. Ich kann kaum glauben, wie viele Leute unterwegs sind.
Ab und zu sitzen Läufer am Streckenrand und ruhen sich aus oder schlafen auch schon mal. Ich habe schon mehrere Leute erbrechen sehen und bin froh, dass ich diesmal nicht dazu gehöre. Mir geht es soweit gut. Ich versuche sicher und gleichmässig vorwärts zu kommen und bei den Verpflegungen nicht zu lange Pausen zu machen. Einfach sicher ins Ziel kommen lautet die Devise.
Ich habe das Gefühl, die Kilometer gehen nicht richtig durch. Kilometermarkierungen gibt es beim UTMB anscheinend nicht. Ich habe jedenfalls noch keine gesehen. Ich orientiere mich an meinem Höhenprofil. Ärgerlich ist, dass meine Garmin-Uhr ungefähr 15km zu viel anzeigt. Die Streckenanzeige stimmt total nicht und bringt somit auch nichts. Mein nächstes grosses Ziel ist Courmayeur, zuerst nun aber der Abstieg nach Lac Combal und nachher geht es nochmals über einen Berg bis Courmayeur. Geduld ist angesagt.
Landschaftlich kommt es mir hier etwas wie der Klausenpass mit dem Urnerboden vor. Ich sehe die Verpflegungsstation Lac Combal schon lange unten in der Ebene. Bis ich dort bin zieht es sich noch. Ich hinke meinem Zeitplan (40h-Finish) mittlerweile ca. anderthalb Stunden hintendrein. Eigenlich wollte ich vor 7:00 Uhr hier sein. Mittlerweile ist schon 8:30 Uhr und die Wärme des Tages beginnt sich aufzubauen. Auf die Cut-Off-Zeit habe ich jetzt aber wieder anderthalb Stunden. Seit Les Chapieux sind somit 45 Minuten Reserve hinzugekommen. Wasser, Nudelsuppe und als Höhepunkt hier, muss ich sogar mal pinkeln. Der Urin sieht farblich nicht zu dunkel aus. Wie es aussieht, mache ich es mit der Wasserversorgung bis jetzt gut. Muskulär keine Probleme und auch die Fusssohlen schmerzen nicht (Einlagen sei Dank), was nach 66km nicht selbstverständlich ist.
Lac Combal – Courmayeur (79 km / 4520 Hm)
Es geht zuerst topfeben auf einer Naturstrasse weiter. Hier könnte man rennen, ich bin aber zu wenig stark dazu. Auch die anderen Läufer marschieren praktisch alle. Für mich ist wichtig, dass ich bergab noch rennen kann. Auf den Flächen tut es ein schneller Marschschritt, mit welchem ich etwa 7km/h schaffe. Schon bald geht es aber nochmals in einen Aufstieg von rund 450 Höhenmetern. Aufstiege sind grundsätzlich eine einfache Sache. Man rechnet so 10 Minuten für 100 Höhenmeter Aufstieg. Bei 450 Metern ergibt sich also eine Zeit von 45 Minuten. Also einfach gleichmässigen Schritt rein und diesen 45 Minuten durchhalten und dann sollte man oben sein. So ist es hier dann auch. Die Aussicht wiederum fantastisch. Der Nebel im Tal ist inzwischen bereits weggeheizt.
Wir stehen nun direkt vor dem Mont Blanc auf der anderen Talseite. Ich weiss das aber zu diesem Zeitpunkt nicht und deshalb gibt es auch kein Foto. Nach Arête du Mont-Favre beginnt der lange Downhill (über 1200 Höhenmeter) runter nach Courmayeur. Bis zum Col Chécrouit geht es noch gemässigt zu und her. Nachher wird es immer steiler. Zeitweise erinnert mich der Downhill an den „Märchenwald“ von der Schynigen Platte nach Burglauenen. Anstelle von vielen Wurzeln hat es hier aber ganz feine Erde auf dem Weg. Durch die Trockenheit und die Läuferscharen ergibt sich eine brutale Staubwolke, welche die Sicht und die Atmung beeinträchtigt. Ich frage mich, ob es gesundheitsgefährdend ist, so viel Staub einzuatmen.
Im Downhill macht es mich nervös, wenn schnellere Läufer, Kamikaze-mässig überholen. Überhaupt mag ich es besser, wenn ich einsamer unterwegs bin. Beim Irontrail war die Freude jeweils gross, wenn man überhaupt mal einen anderen Läufer getroffen hat. Dann hat man immer ein paar Worte gewechselt. Hier bin ich noch mit niemandem in Kontakt gekommen. Das liegt teilweise daran, dass es sehr viele verschiedene Nationen hat, andererseits ist die Ganze Atmosphäre irgendwie hektischer und Ego-zentrierter.
Nach 17:05h (11:05 Uhr) laufe ich beim Sportzentrum in Courmayeur ein. Immer noch anderthalb Stunden hinter meinem Zeitplan, aber grundsätzlich ohne Probleme.
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