Vorgeschichte
Der Ultra Bielersee 50km ist der perfekte Einstieg für Ultra-Marathon-Neulinge. Die Herausforderung ist mit 50km Länge und praktisch keiner Höhendifferenz überblickbar. Es gibt so alle 10 Kilometer einen einfachen Verpflegungsposten und die Strecke ist für Betreuer gut zugänglich. Die Organisation ist einfach gehalten und man kommt mit ÖV oder Auto gut zum Startplatz. Einfach ein sympathisches Rennen und ein idealer Start in die Ultra-Saison.
Ich bin von 2013 – 2015 schon drei Mal hier gelaufen. Letztes Jahr hat es dann leider nicht gepasst. Dieses Jahr hat sich Silvia als Helferin angemeldet und ich bekomme deshalb einen Gratis-Startplatz. Ich freue mich aber nicht so richtig darüber, da ich momentan ziemlich verunsichert über meine körperliche und mentale Verfassung bin. Und wenn eines von beidem nicht passt, dann werden 50km ganz schön lang!
Auf jeden Fall bin ich um einiges demütiger als vor dem Zürich Marathon im April. Es geht hier nicht um Zeitziele. Ideal ist einfach, wenn ich die 50km unter 5 Stunden schaffe. Ich will es gemütlich angehen und möglichst gleichmässig über die ganze Strecke laufen.
Vor dem Start
Wir reisen zu Dritt (Silvia, Remo und ich) mit dem Auto nach Biel. Ich bin entspannt und freue mich auf den Lauf. Kurz vor 8:00 Uhr sind wir vor Ort und parkieren direkt neben der Startlinie. Wir laden die Sachen für den Verpflegungsposten ins Auto und anschliessend hole ich meine Startnummer ab. Es geht wie immer ruhig und familiär zu und her.
Es bleibt noch genügend Zeit für einen Schwatz mit Marco Leuenberger und Beatrice Odermatt. Dann machen sich Silvia und Remo auf den Weg, um den Verpflegungsposten Hagneck einzurichten. Ich mache mich rennfertig. Ich bin gespannt auf das Rennen und ordne mich hinten in der Startaufstellung ein. Mein Ziel bleibt, möglichst gleichmässig durchlaufen zu können.
Erste Hälfte
Punkt 9:00 Uhr wird das Feld auf die Strecke geschickt. Ich fühle mich gut und nehme es gemütlich. Ich gehe davon aus, dass ich auf den letzten 15 Kilometern kämpfen werden muss, es aber knapp unter 5 Stunden ins Ziel schaffen werde. Ich fühle mich wohl mit dem kleinen Raidlight-Rucksack am Rücken. Der Himmel ist bedeckt, es sieht aber nicht akut nach Regen aus und es ist zum laufen ziemlich ideal. Da das Läuferfeld ja nicht so riesig ist, gibt es kein Gedränge und die Positionen sind rasch bezogen.
Nach fünf Kilometern dann der kleine Anstieg noch nach Sutz-Lattrigen. Ich laufe auf eine kleine Gruppe auf und bleibe in dieser drin, da das Tempo passt und es einfacher geht, wenn man anhängen kann. Irgendwie kommt dann auf einmal das Thema Politik auf und es stellt sich heraus, dass ein Läufer SP-Kantonsrat ist. Ein zweiter ist Gemeindeschreiber und somit bestens mit dem politischen Betrieb vertraut. Er beginnt den Kantonsrat dann auch gleich zu föppeln. So ist das eine unterhaltsame Sache und es macht Spass dabei zu sein.
Ein Novum dieses Jahr ist der Hagneckkanal-Halbmarathon. Die Läufer sind mit uns gestartet, wenden dann aber beim Hagneckkanal wieder und laufen zurück zum Start. Entsprechend kommen uns schon bald diese Läuferinnen und Läufer entgegen. Beeindruckend vor allem der Vorsprung des Führenden Laurent Schenkel, welcher den Halbmarathon in einer Superzeit von 1:15:58 gewinnt.
Die ersten zehn Kilometer sind dann für mich nach ziemlich genau 59 Minuten vorbei. Punktlandung! – Kurz danach der erste Verpflegungsposten. Silvia und Remo haben viel zu tun und ich will gleich wieder weiter. Keine Zeit für einen grossen Austausch. Es geht über das Stauwehr des neuen Wasserkraftwerks. Als ich 2013 zum ersten Mal hier gelaufen bin, war dieses noch im Bau.
Ich bleibe an der Gruppe dran und es bleibt unterhaltsam. Mir geht es gut. Der Puls ist irgendwo in den 150er und es zwickt nirgends. Easy Running soweit. So geht es Richtung Erlach, wo der Doppel-Verpflegungsposten bei der Brücke auf und von der St. Petersinsel ist. Ich trinke einen Becher Cola, nehme ein Stück Banane und ein paar Salzstengel und mache ich mich gleich wieder auf den Weg. Unsere „Unterhaltungs-Gruppe“ löst sich hier auf, da nicht alle gleich schnell verpflegen.
Kurz nach der Verpflegung dann die 20km-Marke. Ich habe wieder rund 59 Minuten für die letzten 10 Kilometer gebraucht. Immer noch im Plan. Aber werde ich diese Pace halten können?
Auf der St. Petersinsel wurde es für mich jeweils schon in den Vorjahren schwieriger. Landschaftlich ist es zwar sehr schön. Die Schlaufe raus und wieder zurück ist aber mental nicht ganz einfach zu verarbeiten. Die schnelleren Läufer kommen einem bereits entgegen und der eigene Rückstand wird ersichtlich. Zudem hat es lange Strecken ohne Schatten und die Temperatur steigt nun gegen Mittag an.
Der Gemeindeschreiber überholt mich. Der Kantonsrat kommt nicht mehr mit. – Ich laufe dann vor der Verzweigung für die eigentliche Inselrunde auf eine Läuferin auf und hänge mich an sie ran. Tempo passt immer noch einigermassen und es geht einfacher, sich ziehen zu lassen. Andere Läufer schliessen auf und schlussendlich treffen wir in einer sauberen Einerkolonne am Verpflegungsposten beim Kloster ein. Ich fülle rasch meine Flasche und ziehe dann weiter. Die 25km-Marke ist nicht ausgeschildert, da die St. Petersinsel ein Naturschutzgebiet ist und deshalb nur sparsam markiert wird. Dank GPS-Uhr weiss ich trotzdem, dass die Hälfte nun geschafft ist. Zeitlich habe ich keine Reserven auf einen 5-Stunden-Finish.
Zweite Hälfte
Ich bin nun alleine unterwegs und weder kann ich einen Läufer einholen, noch werde ich selber eingeholt. Ab und zu kommen Nachzügler entgegen, welche die Inselrunde erst noch machen müssen. Körperlich und mental funktioniert es soweit, ich freue mich auf den Verpflegungsposten und die 30km-Marke, welche kurz danach kommt. Dann ist es nicht einmal mehr ein Halbmarathon.
Ich verpflege wieder schnell und laufe gleich weiter. Nach 30 Kilomtern drücke ich die Zwischenzeit. Für die letzten 10km habe ich gut 1:03h gebraucht und liege nun rund 2 Minuten hinter meinem Zeitplan. Okay, wenn es unter 5h nicht reicht ist auch nicht so schlimm. Aber unter 5:15h sollte es bleiben.
Die 5km rüber bis La Neuveville sind hart. Das war schon die letzten Male so. Ich bin alleine und kämpfe mich über die Feldwege. Es geht weg vom See immer noch Richtung Westen, weg von Biel. Dann auf die Hauptstrasse, welche auf die Brücke über den Zihlkanal führt. Von Unterhaltung in der Gruppe ist jetzt keine Rede mehr. Es sind einige Velofahrer unterwegs und ich beneide diese, weil es ihnen viel einfacher geht. Die Passage auf der Hauptstrasse ist mühsam. Man läuft am Strassenrand und die Autos blochen mit 80km/h an einem vorbei. Nach der Kanalüberquerung geht es runter von der Brücke und entlang des Kanals endlich wieder zurück Richtung Biel.
Ich kann einen anderen Läufer überholen, welcher anscheinend auch leidet. Als nächstes überhole ich einen Läufer des Bielersee XXL, welcher auf seiner vierten und letzten 40km-Runde (total 160km oder 100 Meilen) um den See ist. Dieses Rennen war für mich auch Mal reizvoll. Momentan macht es für mich aber keinen Sinn und ich kann mehr nicht vorstellen, mich mal dafür anzumelden.
Mein nächstes Zwischenziel ist die 35km-Marke und nachher der Verpflegungsposten beim Hafen von La Neuveville. Irgendwie ist die Luft draussen und ich überlege mir, wann ich eigentlich das letzte Mal trainiert habe. Also an Übertraining kann es definitiv nicht liegen. – Ich muss einsehen, dass es nun wieder auf die Sache beim Zürich Marathon rausläuft. Bald werde ich mit Gehpausen anfangen, insbesondere, da mein Puls nun dauernd in den 170er liegt und mir momentan die Leidensfähigkeit fehlt, um mit dieser Belastung durchzulaufen. Zudem ist heute keine Priska hinter mir, vor welcher ich davonlaufe!
Kurz vor dem Verpflegungsposten kommt mir dann eine Idee. Ich werde einen Lauf-Geh-Rhythmus ausprobieren. Nach der Verpflegung 2 Minuten marschieren, dann 13 Minuten laufen, dann wieder 2 Minuten gehen, … . Super Idee! Ich bin gespannt, wie das funktioniert!
Flasche füllen, Bananenstück und Salzstengel packen. Dann starte ich mit den ersten 2 Minuten marschieren. Diese funktionieren hervorragend. Der Wechsel zum Laufen ist dann schon eine andere Sache. Ich beisse aber durch und schaue gefühlt alle 15 Sekunden auf die Uhr um zu kontrollieren, wie lange es noch dauert. Nach 13 Minuten Kampf, dann wieder herrliche zwei Minuten Marsch!
Mit nochmals 13 Minuten Kampf, erreiche ich die Verpflegung bei Ligerz. Marschierend dann die 40km-Marke. Zwischenzeit und Lageanalyse: Ich habe 4:14h für 40km benötigt. Sogar der 5:15h-Finish ist nicht mehr realistisch. Frau und Kind warten am Ziel und ich werde wohl mehr als 30 Minuten später als prognostiziert dort ankommen. Mehr Trainingseffekt bringen die 10 letzten Kilometer nicht mehr. Ich habe keine Lust mehr und will aufhören!
Ich zieh mein Handy raus und rufe Silvia an. Sie soll mich hier abholen, wir fahren nach Hause und geniessen den restlichen Tag zusammen. Es klingelt, klingelt, klingelt, klingelt und klingelt. – Und niemand geht ran! – Unglaublich. Die hat doch nicht ihr Handy zu Hause gelassen? Ich versuche es nochmals. Wieder ohne Erfolg. – Sie lässt das Handy zu Hause und ich muss das Ding zu Ende laufen!
Ein Läufer überholt mich und ermuntert mich mitzulaufen. Ich hänge mich an ihn und es geht eigentlich ganz passabel. Wir laufen über die Marathonmarke und er meint, er sollte sich nach 42km eigentlich nicht so Scheisse fühlen. Ich enthalte mich eines Kommentars. – Für mich sind es heute nicht: „Nur noch 8 Kilometer!“, sondern „Für die 8 Kilometer brauche ich sicher noch eine Stunde!“.
Ich lasse den anderen Läufer ziehen und probiere es nochmals bei Silvia. – Keine Antwort. Nächste Idee: Wenn es mit dem Individualverkehr nicht klappt, wieso nicht den ÖV probieren. SBB-App starten und Verbindung ab Twann suchen. Zug oder Schiff stehen zur Auswahl, aber ich müsste zu lange warten. Also doch fertig laufen.
Die Frau des Gemeindeschreibers läuft auf und versucht mich zu motivieren. Ich hänge auch hier wieder an und zuerst passt es wieder. Nach wenigen hundert Meter ist die Motivation dann aber wieder weg und zudem habe ich das Gefühl, der rechte Oberschenkel will sich bald verkrampfen. – Alles Kacke heute!
Bei Wingreis wieder ÖV checken. Hier gibt es keinen Bahnhof und eine passende Schiffverbindung gibt es auch nicht. Und meine Frau nimmt immer noch nicht ab. Also missmutig weiter. Mach ich das Ding halt fertig!
Ich werde nun dauernd überholt, das ist mir aber egal und ich habe gar keine Lust mehr anzuhängen. Stattdessen blase ich Trübsal und werfe im Geist schon mal die ganze Saison über den Haufen. – Den UTMB will ich aber dieses Jahr schaffen! Nachher kann ich die Laufschuhe an den Nagel hängen, aber den UTMB, den will ich noch schaffen! – Die 100km von Biel können mir gestohlen bleiben. Ich melde dort auf die 56km um. Der Eiger E101 auch, dort ändere ich auf den E51 und laufe den zusammen mit Markus. Oli soll um 3:30 Uhr alleine aufstehen! Den K78 mache ich. Das wird gehen. Und nachher beim UTMB beisse ich einfach durch. Das Training findet ab sofort nur noch auf dem 1000er-Stägeli statt. Dafür 3x die Woche!
Mit solchen Gedanken schneggle ich nach Tüscherz. Es sind nur noch gut 5km und ich checke nochmals den SBB-Fahrplan. Der Zug auf welchen ich in Twann nicht warten wollte, wird nun bald in Tüscherz eintreffen. Den nehme ich! Es wird aber zeitlich eng werden! – Also weg von der Laufstrecke und rein ins Dorf. Ich spurte und habe nun mein Privatrennen gegen die SBB. Dieses finishe ich so erfolgreich, dass ich sogar noch ein Billett lösen kann, bevor der Zug einfährt. Ausser Atem und verschwitzt steige ich ein und entledige mich zuerst mal beschämt meiner Startnummer.
Sechs Minuten später bin ich am Bahnhof Biel. Die Schmach geht weiter. Offensichtlich erfolgreiche Finisher kommen mir entgegen, als ich wie ein geschlagener Hund zum Zielgelände marschiere. Ich bin weder verletzt, noch am Ende. Einfach nicht motiviert genug. Remo steht an der Ziellinie und wartet sehnsüchtig auf mich. Ich komme allerdings von der falschen Seite. Als ich ihn von hinten anspreche beginnt er gleich zu weinen weil er meint, er hätte meinen Zieleinlauf verpasst und darob so enttäuscht ist. Ein Stich in mein Herz! Es wird sich zeigen, dass mich der heutige Abbruch viel stärker beschäftigt, als das „DNF“ beim UTMB letztes Jahr. Vor zwei Jahren waren diese 50km nur Peanuts für mich und heute schaffe ich dieselben nicht einmal mehr.
Remo begleitet mich zur Dusche. Seine Enttäuschung ist wieder weg und er erklärt mir, was er sich alles zum Geburtstag wünscht. Silvias Handy, welches alleine im Auto lag, hat fast keinen Akku mehr. Dafür zahlreiche unbeantwortete Anrufe. Wir fahren nach Aarburg und holen David vom Schachturnier ab. Silvia fragt, ob wir noch einen Spaziergang machen wollen. Meine Uhr zeigt heute bereits über 50’000 Schritte an. Ich habe keine Lust mehr auf einen Spaziergang!
Fazit
1.) Die körperliche Form stimmte nicht. Ich hätte den Lauf zwar unter 5:30h beenden können. Das genügt aber meinen Ansprüchen nicht. Meine Prioritäten lagen die letzten Wochen nicht beim Sport und das war auch richtig so.
2.) Die mentale Form stimmt absolut nicht für so flache „schnelle“ Rennen. Es fehlt mir die Herausforderung und die Leidensfähigkeit. Aus diesem Grund macht es auch keinen Sinn, die 100km von Biel auf 56km zu verkürzen. Ich werde sofort auf „Trail“-Modus wechseln und statt in Biel, am Trail d’Absinth starten. Ich gehe davon aus, dass es dort auch mit der Motivation wieder hinhaut.
3.) Am UTMB gibt es nichts zu rütteln. Dieses Jahr mache ich den einfach fertig! – Die Zeit ist dabei unwichtig. Trainingsmässig werde ich den Fokus aufs 1000er-Stägeli legen, damit ich mich an die Belastungen aufwärts und abwärts gewöhne.
4.) Ich werde versuchen, meinen Bewegungs- und Frischluftdrang mit familienfreundlicheren Unternehmungen zu stillen. Eine Idee ist eine Wanderung von Aarau nach Genf in vielen Tagesetappen.
Ein guter Bericht. Ich bin doch ein wenig froh, dass ich nicht der einzige war der auf der Strecke gelitten hat. Ich würde noch von der Frau des Gemeindeschreibers und vielen anderen überholt, bevor ich nach 6h15 finishte. Das Bad im Bielersee war jedoch sehr erquickend.
Hallo Martin, danke für deine Laufberichte. Sie sind interessant, ehrlich und eindrücklich. Es fühlt sich an als wäre man dabei, wenn man sie liest. ich finde es aber gut, wenn du dich auf Pos. 4.) konzentrierst.Was du mit den Kindern unternimmst, werden sie nie vergessen. Die Jahre gehen so schnell vorbei und bald gehen die Jungs ihre eigenen Wege.
Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg und Bewahrung bei deinen Läufen.
hey martin, wie immer einfach toll geschrieben. schade, dass wir uns im ziel nicht mehr gesehen haben. wünsche dir alles gute für den trail de l’absinthe; habe premiere in biel. gruss und bis zum nächsten mal marco
Danke Marco! – Ich wünsche dir viel Spass und Erfolg im Biel!
Wir sehen uns in Grindelwald