Vorgeschichte
Eigentlich war mal die Idee, in Biel nochmals die 10 Stunden auf 100km anzugreifen. Angemeldet hatte ich mich bereits lange im Vorfeld. Nach den Erfahrungen beim Zürich Marathon und dem Ultra Bielersee, musste ich mir aber eingestehen, dass weder die Form noch die Motivation für einen flachen 100km-Lauf vorhanden war. Am eigentlichen Saisonziel, den UTMB wollte ich aber festhalten. So habe ich mich entschieden, statt Freitag Abend in Biel, einfach am Samstag Morgen in Couvet zum Trail d’Absinthe zu starten. Hier stand ich schon 2014 und 2016 am Start. Der Lauf ist abwechslungsreich und landschaftlich sehr reizvoll. – Die idealen Voraussetzungen, um die Form zu testen, die Trail-Saison zu lancieren und die Begeisterung fürs Laufen wieder zurückzugewinnen.
Oli Stupp kommt auch wieder mit und wir reisen am Freitag Abend mit seinem Camping-Bus an. Da Remo noch Geburtstagsparty hat, können wir erst nach 21:00 Uhr in Rothrist wegfahren. In Neuenburg ist die Autobahn gesperrt und wir müssen durch die Stadt fahren und verlieren eine Viertelstunde. Um 23:00 Uhr kommen wir in Couvet an. Um 23:30 ist Nachtruhe.
Ich schlafe gut, bis um 5:30 Uhr der Wecker geht. Anziehen, Startunterlagen holen und rennbereit machen. Das Wetter sieht gut aus. Am Morgen sollte es noch bedeckt sein, ab Mittag dann heiss werden. Auf jeden Fall sind die Bedingungen nicht schlammig, wie letztes Jahr. Um 7:00 Uhr gehe ich durch die Materialkontrolle und stelle mich in die Startaufstellung. Ich bin recht ruhig und kann nicht richtig einschätzen, wie der Tag verlaufen wird. Ich versuchen durchzubeissen und möchte unter 10 Stunden laufen.
Couvet – Creux du Van
Pünktlich um 7:15 Uhr erfolgt der Start. Neben den 75km-Ultraläufern gehen auch die Marathon-Läufer auf den Start, welche deutlich in der Überzahl sind. Die ersten 8 Kilometer bis Noiraigue sind praktisch flach. Ich will diese Strecke defensiv angehen, um nicht unnötige Energie zu verschwenden. Auf den ersten beiden Kilometern werde ich gefühlt vom ganzen Feld überholt. Das macht mir keinen Spass, ich versuche aber einfach ruhig zu bleiben und mein Tempo zu laufen. Das Problem war, dass ich in der Startaufstellung zu weit vorne stand und entsprechend viele schnelle Läufer hinter mir.
Ich fühle mich am Anfang nicht besonders gut und das Laufen in der Ebene macht mir wenig Spass. Aber das ist ja keine neue Erkenntnis in diesem Jahr. Irgendwann finde ich dann meinen Rhythmus und es geht besser. Nach genau 50 Minuten bin ich in Noiraigue, wo der Aufstieg zum Creux du Van beginnt. Ich hole meine Stöcke aus dem Rucksack und schalte auf Uphill-Modus um. Zum ersten Mal seit dem UTMB letzten August, habe ich die Trekking-Stöcke in den Händen. Und ich merke schon nach wenigen hundert Metern, wo ich heute meine erste Blase holen werde: Am Daumen der linken Hand! Am UTMB werde ich wieder Handschuhe anziehen.
Bergauf geht es gut und ich kann ein paar Läufer überholen. Ich halte mich dann aber bewusst zurück und will nicht zu stark forcieren. Der Puls pendelt sich so bei 160 Schlägen ein. Das ist komfortabel so. Jetzt bin ich im Rennen drin. Ich fühle mich gut, die Pace stimmt, vor mir marschieren die wohl schönsten Beine des ganzen Rennens und Landschaft ist ebenfalls wunderschön. Was will man mehr an einem Samstag Morgen?
Nach 1:40h bin ich dann am Verpflegungsposten am Creux du Van. Ich trinke etwas Bouillon, fülle die Wasserflasche und esse ein Petit Beurre und einen Apfelschnitz. Dann geht es weiter.
Creux du Van – Chasseron
Ich mache hier noch Fotos. Später konzentriere ich mich mehr auf die sportliche Leistung und lasse die Kamera in der Tasche. Die Strecke führt hoch zum Soliat auf gut 1’400 Metern. Dann beginnt der lange Downhill bis nach Môtiers. Auf diesem Abschnitt kann man Tempo machen, da die Strecke gut laufbar ist und meist leicht abfällt. Bis jetzt läuft alles nach Plan und ich habe in keinem Bereich Probleme.
In der Schlucht vor Môtiers überholt mich mit hohem Tempo ein Marathon-Läufer. Einige Meter später stürmt er nach rechts über eine Brücke. Etwas kommt mir komisch vor. Und tatsächlich: Die Strecke führt links um einen Felsen und nicht nach rechts über die Brücke. Ein zweiter Läufer folgt dem ersten bereits. Ich rufe die beiden dann zurück und weiter geht es auf der richtigen Route. Die Strecke ist grundsätzlich sehr gut markiert, aber dennoch muss man den Kopf bei der Sache haben und aufmerksam sein.
Dann sind wir wieder unten im Tal und bereit für den zweiten grossen Anstieg des Rennens, hoch zum Chasseron. Zuerst gibt es aber noch Verpflegung. Ich bleibe bei meiner Verpflegungsroutine: 1 Becher Bouillon, 1 Becher Eistee, 1 Becher Cola, 1 Petit Beurre, 1 Apfelschnitz. Unterwegs Wasser und zweimal, als ich „ein Loch im Magen“ habe, esse ich ein Knoppers. Die Gels, welche ich eingesteckt habe, bleiben heute unberührt. Ich habe keine Lust darauf und ich glaube auch, ich bekomme mehr Magenprobleme mit den Gels. Auf jeden Fall funktioniert heute die Verpflegung den ganzen Tag bestens.
Dann geht es rein in die Carrierères des Môtiers. Ebenfalls eine wunderschöne Passage. Die Marathon-Läufer zweigen hier ab und es wird einsamer. Ich überhole noch zwei Läufer anfangs Aufstieg und bin nachher eine Stunde unterwegs, ohne dass ich vor oder hinter mir andere Läufer sehe.
Weiter geht es dann durch die tolle Juralandschaft. Ich komme soweit gut vorwärts. Wenn es flach geht habe ich keine Mühe, mich im Laufschritt zu bewegen. Aufwärts gehts im Power-Hike. Ich rechne viel und setze mir Zwischenziele. Mittlerweile bin ich 4:30h unterwegs und es immer noch alles in Ordnung. Ein Finish unter 10h sollte immer noch möglich sein. Allerdings ist eine Prognose schwierig, da Strecke, Höhenmeter und technische Schwierigkeiten einen Einfluss haben.
Dann der letzte Anstieg zum Chasseron. Hier oben hat es viele Wanderer und die Aussicht ist heute fantastisch. 40km sind geschafft, ich bin seit 5:20h unterwegs. Halbzeit ist erreicht. Verpflegen und weiter!
Chasseron – La Côte-aux-Fées
Nach einem Blick zurück runter zum Neuenburgersee, geht es in den heftigen Downhill. Nicht meine Lieblingsstrecke. Zum Glück ist es dieses Jahr trocken und deshalb keine Rutschpartie, wie letztes Jahr. Die Beine sind immer noch gut und verkraften das abwärts laufen soweit gut. Die 1000er-Stägeli-Tritte scheinen sich auszubezahlen. Ich bin abwärts zwar nicht der schnellste, mir ist aber wichtiger, dass ich gesund runterkomme.
Im Downhill habe ich die Zeit und Ruhe, um über die weitere Saison nachzudenken. Mein Entschluss, den Bieler 100er auszulassen und stattdessen hier zu starten war sicher richtig. Hauptziel bleibt der UTMB. Als Vorbereitung noch der E101 und der K78. Der Gedanke kommt wieder auf, in Grindelwald nur den E51 zu laufen. Vor zwei Jahren hätte ich gedacht, wieso läuft man einen E51, wenn es doch einen E101 gibt? – Heute sehe ich es anders. Ich muss meine Lebensbereiche in Balance halten. Wenn ich im Sport zu viel Zeit und Energie verbrate, holt mich das an anderer Stelle ein. Der E101 bedeutet zwei kurze Nächte, ein sehr langer intensiver Tag dazwischen und entsprechend viel Regenerationszeit. – Beim E51 habe ich den selben Trainigseffekt wie beim E101, habe aber weniger Stress und brauche weniger Erholungszeit. Dadurch kann ich mehr trainieren vor dem K78. – Ich komme zum Schluss, dass meine Chancen beim UTMB steigen, wenn ich nur den E51 laufe. Und schlussendlich zählt dieses Jahr nur der UTMB! – Die Entscheidung ist praktisch getroffen, definitiv werde ich nach dem Lauf nochmals darüber nachdenken.
Im Aufstieg zum Chasseron bin ich auf Rolf aufgelaufen. In der Ebene und abwärts ist er schneller als ich. Bergauf habe ich leichte Vorteile. Bei den Verpflegungen braucht er länger als ich. So ergibt sich ein Hase-Schildkröte-Rennen über rund 25km bis rund 10 Kilometer vor dem Ziel. An der Verpflegung überhole ich, Rolf überholt mich im Laufen, beim Hiken kann ich dranbleiben oder aufschliessen. Der Hase gewinnt schlussendlich das Rennen. Allerdings mit weniger als zwei Minuten Vorsprung.
Nach gut 6:30h treffe ich in La Côte-aux-Fées ein. 48 Kilometer liegen hinter mir. Im Prinzip sind fast 2/3 der Strecke geschafft. Mental geht es für mich ab jetzt „heimwärts“. Die restlichen Kilometer müssen aber zuerst verdient werden.
La Côte-aux-Fées – Couvet
Tja, was soll ich noch schreiben? – Es geht weiter durch die Juralandschaft. Wiesen, Weiden, Wälder, Schluchten, Felsen. Alles vorhanden. Der Lauf ist einfach unglaublich abwechslungsreich. Eigentlich sollte man dieses Runde nicht in einem abspuhlen. Rucksack packen, auf zwei oder drei Tage aufteilen, gemütlich abwandern und richtig geniessen. Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf. Aber heute nicht mit Frust, wie ich das auch schon hatte. Heute will ich abspuhlen. Geniessen gibt’s ein anderes Mal wieder!
Für den Lauf positiv, für den Laufbericht nicht: Auch nach über 50 Kilometern funktioniert noch alles und es gibt keine Dramen. Schuhe gut, Einlagen gut, Socken gut, Muskeln gut, Magen gut, Rucksack gut, Kopf gut, Wetter gut, Lauf gut! – Am Finish unter 10h beginne ich aber zu zweifeln. Ich kann die restliche Strecke nicht richtig einschätzen und hoffe, dass ich es in knapp über 10 Stunden beenden kann. Ich denke an Oli. Wie läuft es wohl ihm? Wird er lange auf mich warten müssen?
Auf jeden Fall will ich ihn so kurz wie möglich warten lassen. Wenn es irgendwie geht, wechsle ich in den Laufschritt. Und das geht heute bis zum Schluss. Ich habe auch nicht das Bedürfnis, vorzeitig abzubrechen oder irgendwelche Pausen einzulegen. Angehalten wird nur bei den Verpflegungsposten und auch dort nur um zu trinken und die Flasche aufzufüllen. Eine Pinkelpause habe ich mir auch noch gegönnt, ansonsten heisst es stetig vorwärts.
Die Bauern sind überall am heuen. Im Schatten finde ich es angenehm, auf den Wiesen ohne Schatten brennt die Sonne recht stark runter. Ich trinke regelmässig, um nicht zu stark zu dehydrieren. Kurz vor der Verpflegung bei Chapeau de Napoléon überholt mich Rolf wieder mal. Bei der Verpflegung überhole ich, er holt mich wieder ein. Wir wechseln ein paar Worte und sehen uns dann erst im Ziel wieder.
Alle fünf Kilometer steht ein Schild. Bei 60km bin ich fast 20 Minuten über einem 10h-Finish. Das wird definitiv nichts werden. Ich lasse mich dadurch aber nicht demotivieren. Einfach weiterlaufen. Mal sehen, wo ich nach 10 Stunden stehen werde und dann einfach fertig laufen. Andere Optionen gibt es heute nicht.
Nach 9 Stunden bin ich bei Kilometer 65. Nur noch 10 Kilometer. Eine Stunde wird nicht reichen dafür, aber wieviel wird die Endzeit schlussendlich betragen. Als ich dann aus einem Waldstück komme, sehe ich vor mir eine Gruppe von vier Läufern, welche über die Ebene marschieren. Ja, es gibt Leute, die haben heute mehr zu kämpfen als ich. Ich ziehe meinen Laufschritt durch und sammle die vier ein. Es ist natürlich motivierender, wenn man am Schluss noch überholen kann und nicht selber überholt wird.
Dann die letze Verpflegung. Bouillion, Cola, ein Stück Schokolade und ein Petit Beurre. Das reicht bis in Ziel. Noch 4 Kilometer. Ein paar Meter aufwärts und dann der steile Downhill nach Couvet. Die Muskulatur macht abwärts immer noch gut mit. Am liebsten sind mir die Passagen mit Treppenstufen. Dort bin ich am schnellsten und sichersten unterwegs. Noch 3 Kilometer. Ein letzter Sanitätsposten. Gut gelaunt grüsse ich die beiden Samariterinnen. Vor mir ein anderer Läufer. Den will ich noch einholen. Er verpasst dann eine Abzweigung und so passiere ich ihn kampflos, da er natürlich erst zurücklaufen muss, nachdem ich ihm nachgerufen habe. Es geht weiter abwärts. Aufmerksam bleiben, man kann sich immer noch verletzen.
Dann die 2 Kilometer-Marke. Kurz danach platzt eine Blase am grossen Zeh links. Es brennt kurz, aber nach 50 Metern ist der Schmerz bereits weg. Ich komme auf die Asphaltstrasse, welche ins Dorf führt. Noch 1.5km. Einfach noch 10 Minuten so weiterjoggen. Ich werde etwas länger als 10:30h brauchen. Weiter vorne überholt Rolf gerade eine Läuferin und einen Läufer. Vielleicht komme ich da auch noch ran. Von hinten droht keine Gefahr mehr.
Tatsächlich kann ich die beiden rund 300 Meter vor dem Ziel noch überholen. Dann noch ums Sportzentrum und rein ins Ziel. Ich halte nach Oli Ausschau, kann ihn unter den Zuschauern aber nicht entdecken. Nach 10:32:18 stoppe ich die Uhr. Die Zeit haut mich zwar nicht vom Hocker, mit dem Verlauf des Rennens bin ich aber sehr zufrieden. Darauf kann ich aufbauen!
Nach dem Zieleinlauf
Oli liegt nach dem Zielbogen im Rasen. Er musste der Hitze etwas Tribut zollen und hat ebenfalls länger gebraucht als letztes Jahr. Wir geniessen unseren Erfolg ein paar Minuten auf dem Rasen. Dann duschen, zusammenpacken und ab nach Hause. In Marin machen wir einen Zwischenhalt im McDonalds. 5’000 Kalorien verbrannt, 1’500 Kalorien aufgefüllt. Die Bilanz ist trotz McDonalds okay.
Zu Hause noch kurz ein wenig lesen und dann ins Bett. Ich habe wenig Schmerzen und kann gut schlafen. Am Sonntag Morgen plagt mich am stärksten ein Sonnenbrand am rechten Trizeps. Da hatte ich zu wenig eingecremt. Gegen Abend kommt dann Muskelkater an den Schultern auf. Das hatte ich erwartet, da ich nie mit den Stöcken trainiert hatte. Der Rest ist in Ordnung.
Fazit
Trail macht einfach mehr Spass als flache Rennen. Die Entscheidung, statt bei den 100km in Biel, hier zu starten war völlig richtig und hat sich ausbezahlt. Ich hatte Spass und bin motiviert, den Weg bis zum UTMB konsequent zu gehen. Die Entscheidung, in Grindelwald nur den E51 zu laufen ist nun ebenfalls fix.
Ich will in Grindelwald und am K78 die Ernährungsstrategie nochmals testen. Ich werde versuchen, möglichst mit festen Nahrungsmitteln klar zu kommen und die Gels nur zu benutzen, wenn ich keine festen Sachen mehr runterbringe.
Der Weg zum UTMB-Finish ist noch weit und steinig. Ich denke aber die Chancen für den Erfolg sind gegeben.
Hallo Martin,
Ich freue mich für Dich, dass Du Deine Motivation wieder gefunden hast !
lg aus dem Saarland
Bernd
Hoi Martin
Hab gedacht, hast die Laufschuhe an den Nagel gehängt und mit Wanderschuhen ersetzt für weitere Trips quer durch die Schweiz mit den Kids.. Schön zu lesen, dass Dein „Lauf-Feuer“ ganz fürs Ego doch noch lodert – wäre echt ein abruptes krasses Ende gewesen in deiner Lauf-Karriere..
Viel Spass weiterhin, Du „Maschine“.. 😉
Freu mich für Dich..
Herzliche Grüsse
Ja Martin, Du stehst immer wieder auf ! Alles Gute weiterhin und herzliche Grüsse, Heinz und Cesira