Swissalpine Marathon K78 2017 – Punktlandung

Vorgeschichte

Als „richtiger“ Ultra-Trailläufer hatte ich mich ja bis letztes Jahr über den K78 eher mokiert. Ein Rennen ohne Pflichtausrüstung, dafür Verpflegungsposten alle 5km, das kann man ja nicht ernst nehmen. – Doch erwies sich Datum und Ort auf einmal als ideal für mich und ich stand 2016 zum ersten Mal am Start des K78. Im Aufstieg zur Keschhütte vermisste ich zwar meine Stöcke, deren Einsatz hier verboten ist. Als ich am Abend aber gemeinsam mit meinen Jungs ins Ziel laufe, finde ich den Lauf total in Ordnung. – Eine Rechnung bleibt aber offen: Ich verpasse einen Sub-10h-Finish um weniger als vier Minuten.

Tja, die Geschichte wiederholt sich. Ich bekomme unerwarteterweise gleich wieder einen Startplatz für den UTMB zugelost. Die Jungs sind wieder bei den Schwiegereltern in Davos und ich kann wieder am K78 starten. – Werde ich die 10 Stunden im zweiten Versuch knacken können?

Da ich in der Woche vor dem Rennen ohne Frau und Kinder alleine zu Hause bin, habe ich viel Zeit zum trainieren. Vom ersten 1000er-Stägeli-Training nach dem Eiger Ultra E51 bleibt Muskelkater in den Waden zurück. Das verunsichert mich etwas. Ich mache dann noch ein Hügeltraining am Montag und nochmals 1000er-Stägeli am Mittwoch. Am Donnerstag geht es noch eine Runde aufs Bike, einfach weil ich ja Zeit habe. Also total ausgeruht werde ich am Start sicher nicht sein. Der Lauf an sich geht ja aber als Training durch und es geht nicht um eine Bestleistung.

Am Freitag Abend fahre ich mit dem Auto nach Davos. Meine Schwiegereltern haben bereits meine Startnummer abgeholt und ich kann am Abend gleich alles für den Start vorbereiten. Ich kann dann schlecht einschlafen und als ich endlich schlafen kann, träume ich wieder etwas schräges von einem Lauf, welcher nicht funktioniert. – Aber das ist ja schon fast Tradition und hier in Davos irgendwie besonders ausgeprägt.

Vor dem Rennen

Ich stehe nach 5:00 Uhr auf und mache mich bereit. Um 5:45 Uhr bin ich auf der Bushaltestelle. Ein anderer Läufer ist bereits da. Statt einer Startnummer trägt er die Bezeichnung „Besenläufer K78/K36“. Ich frage mich, ob das ein gutes Omen ist und hoffe, dass ich ihn heute nur einmal treffe.

Beim Sportzentrum deponiere ich meinen Rucksack mit den Sachen für nach dem Lauf. Einen Dropbag für Bergün gebe ich nicht ab. Der ist für mich überflüssig. Ich habe meine Raidlight-Weste dabei mit einer Wasserflasche, Portemonnaie, Handy, Regenjacke und 3 Knoppers als Verpflegung.

Die Zeit bis zum Start schlage ich mir im Restaurant mit Kaffee, Gipfeli und WC-Besuch um die Ohren. Es ist spannend die vielen Leute zu beobachten. Der OK-Chef Andreas Tuffli schaut auch vorbei. Er wirkt zufrieden und entspannt. Es ist eine riesige Organisation, aber ich denke über die Jahre hat sich das alles sehr gut eingespielt.

Eine Viertelstunde vor dem Start mache ich mich dann auf den Weg zur Startbox. Ich reihe mich weit hinten ein. Auf der Schleife durch Davos hat es genügend Platz, dass sich das Feld sortieren kann. Ich will ruhig und gemächlich starten. – In der Startbox treffe ich dann unseren Gemeindeammann Rolf Buchser welcher auch wieder den K78 läuft, sowie seine Frau Dorothea, welche sich erfreulicherweise für den K31 angemeldet hat. Finde ich toll. Dorothea verabschiedet sich dann, weil sie ganz hinten einstehen will um nicht von unserem mörderischen Starttempo mitgerissen zu werden. 🙂 – Alles bereit, es kann losgehen!

Streckenprofil

Davos – Filisur

7:00 Uhr dann der Startschuss. Wir gehen mit den K31-Läufern auf die Strecke, welche uns bis Filisur begleiten. – Die Wetteraussichten sind super. Am Morgen ist es noch angenehm kühl und unter Tag soll Bewölkung die Sonneneinstrahlung teils dämpfen. Am Abend besteht ein gewisses Gewitterrisiko. Ich hoffe aber vorher im Ziel zu sein.

Beste Bedingungen kurz nach dem Start

Zuerst wieder die 5km-Schlaufe durch Davos. Ich fühle mich gut und versuche die Sache entspannt anzugehen. Keine Puls-Exzesse auf den ersten 10 Kilometern!  – Als dann die ersten leichten Steigungen kommen, jogge ich diese alle relativ mühelos durch. Ich meine, letztes Jahr ging ich hier defensiver zu Werke.

Im Schatten ist es noch angenehm kühl

Ich halte Ausschau nach einer Pacerin, welcher ich anhängen könnte. Dabei fällt mir eine grosse, schlanke, französisch sprechende Dame auf. Sie ist allerdings nicht alleine unterwegs und läuft mit ihrem Mann oder Partner. Dieser ist anscheinend schwächer als sie und sie muss immer wieder auf ihn warten. So funktioniert das nicht als Pacemakerin und ich überhole die beiden. Den Mann sehe ich heute nicht mehr. Die Dame bekommt später von mir den Übernamen „French Rocket“.

Bis Monstein passiert dann nicht mehr viel aufregendes. Alles funktioniert und ich komme gut vorwärts. In Monstein steht dann überraschend Urs Hächler aus Schöftland an der Strecke. Wir grüssen uns kurz, ich habe aber keine Zeit für Smalltalk und will weiter. An der Verpflegung fülle ich meine Wasserflasche und trinke den ersten Becher Bouillon dieses Rennens.

Davos Monstein

Im Downhill vom Dorf runter zum Bahnhof lasse ich es dann ordentlich laufen. Das ist zwar eine erhöhte Belastung für die Muskulatur, ich bin aber zuversichtlich, dass diese es verkraftet. Die schnellen Kilometer machen Spass und ich fühle mich gut. Beim Bahnübergang kam letztes Jahr gerade ein Zug aus Davos. Dieses Mal ist die Schranke noch oben und ich schätze, dass ich etwas früher dran bin. Nach dem Bahnhof geht es dann in die Zügenschlucht und bald höre ich über mir den Zug aus Davos durchfahren. Ein wenig Vorsprung auf letztes Jahr habe ich also gemäss Rhätischer Bahn.

In die Zügenschlucht

Auf die Schlucht habe ich mich gefreut. Landschaftlich sehr schön und dank Schatten angenehm kühl. So lange es abwärts geht, macht es auch Spass. Als es dann aber auf einmal wieder flach wird und es damit anstrengender wird, habe ich auf einmal eine kleine Krise. Der erste Halbmarathon liegt hinter mir und ich bin seit etwas mehr als zwei Stunden unterwegs. Ich jogge einfach weiter und als es dann auf den Singletrail Richtung Bahnhof Wiesen geht, läuft es mir wieder besser.

Verpflegungsposten beim Bahnhof Wiesen

Beim Bahnhof Wiesen genehmige ich mir einen Becher Wasser. Die Schranken sind schon geschlossen und der Zug abfahrbereit, ich werde von den Streckenposten aber noch durchgelassen. Weiter geht es also über das Wiesener Viadukt. Heute habe ich den Fotoapparat nicht dabei und nutze dafür das Handy. Da kann man ja auch gleich ein Video von der Überquerung des Viadukts machen. Als ich mir das nachher anschaue, wird mir von dem Geruckel fast schlecht. Ich ziehe den Hut vor meinen Kollegen, welche brauchbare Laufvideos filmen!

In einem kurzen Anstieg direkt nach dem Viadukt, überholt mich „French Rocket“. Ihren Partner hat sie wohl zurück gelassen. Mich lässt sie auch gleich stehen und ich denke, dass ich sie wohl heute nicht mehr wiedersehe. Dieser Eindruck sollte täuschen. Bald geht es in den Downhill runter nach Filisur, dem tiefsten Punkt der Strecke. Ich lasse es wieder laufen, allerdings nicht so unbeschwert wie letztes Jahr. Denn ich weiss, die Herausforderung wartet nachher, wenn die Strecke auf einmal wieder leicht ansteigt. – Beim abwärtslaufen ziehe ich mein erstes Knoppers aus der Tasche und verpflege mich. Energie zuführen für den Aufstieg nach Bergün.

Kurz vor Filisur

Gefühlsmässig bin ich der Meinung, ich müsste ein paar Minuten eher in Filisur sein, als vor einem Jahr. Der Eindruck täuscht aber und ich bin nur gut eine Minute schneller. Die Frage ist, wie stark ich den Körper schon belastet habe. – Zur Stärkung gibt es wieder Bouillon und ich fülle auch gleich meine Wasserflasche auf.

Filisur – Keschhütte

Nach der Verpflegung noch ein paar Meter runter bis zur Brücke über die Albula. Jetzt kommt der Abschnitt, bei welchem ich letztes Jahr eine psychische Krise hatte und bei dem ich mir ausrechne, dieses Jahr Zeit gutmachen zu können. – Ich senke meinen Blick zu Boden und versuche einfach ruhig und gleichmässig zu joggen. Nur nicht zu weit nach vorne schauen. Wenn ich das so 20 Minuten durchhalten kann, kommen die steileren Abschnitte, wo ich marschieren kann, was mir wesentlich besser liegt. – Ich werde zwar von einigen Läufern überholt, kann aber im Laufschritt bleiben und bin zufrieden, wie ich die drei Kilometer bis Bellaluna bewältigt habe. Endlich beginnt die richtige Steigung.

Aufstieg nach Bergün

Ich komme dann aber nicht richtig in den Rhythmus und fühle mich nicht so toll, wie ich es gerne hätte. Anfangs glaube ich noch, dass es bald bessern wird, aber statt Besserung treten auf einmal muskuläre Probleme auf. Ich spüre, dass meine Waden eine Tendenz Richtung Krampf haben. Kein gutes Zeichen! – Ich befürchte, dass ich diese Woche doch etwas zu viel trainiert habe. Die „Lockerungs“-Biketour am Donnerstag war wohl auch nicht so ideal. Gut, wenn ich beim Überholen gesehen hätte, dass der ältere Herr ein Elektro-Bike hat, hätte ich mich wohl auch nicht auf ein Privatrennen vom Pfaffenberg hoch in den Wald eingelassen.

An der Albula

Zeit für eine Pinkelpause. Die war eigentlich schon länger fällig aber ich habe sie für einen Moment aufgespart, in dem es mir nicht so toll geht. Und dieser Moment ist nun gekommen. – Blasenmässig bringt die Pause zwar Entspannung, ansonsten ist der Effekt aber überschaubar.

Ich mache mir Sorgen, wie das dann hoch zur Keschhütte funktionieren soll, wenn ich hier schon so kämpfe. Da ich kein Höhenprofil dabei habe, kann ich meinen Fortschritt auch nicht richtig abschätzen. Die Situation verbessert sich erst, als ich auf einen jungen Deutschen auflaufe, welcher seinen zweiten Ultra läuft. Ich überhole ihn nicht, sondern hänge mich hintenran und lasse mich ziehen. So geht es einfacher. – Was mich nun nervt ist der Pulsmess-Brustgurt. Dieser sitzt zu locker und rutscht runter. Ich versuche das Ding zu richten, was aber nicht richtig gelingt.

Vor Bergün

Genau um 11:00 Uhr haben wir dann den Anstieg geschafft und hören unten in Bergün den Startschuss für den K36. Im Downhill bin ich nun nicht mehr so spritzig und muss den Deutschen ziehen lassen. Der Speaker ist zu hören und kündigt „Hochuli“ an. Schon in Wiesen hatte ich das Gefühl, „Hochuli“ wird ausgerufen, lange bevor ich überhaupt beim Posten war. Das Rätsel löst sich nach dem Rennen. Eine Dame mit Nachnamen Hochuli läuft ein paar Minuten vor mir. Im Sertigtal überhole ich sie anscheinend noch, lerne sie aber leider nicht persönlich kennen.

Es ist nun ziemlich warm an der Sonne und der Pulsgurt nervt mich immer noch. Ich entscheide mich, die Sache in Ordnung zu bringen und gleich noch das Unterzieh-Shirt auszuziehen. Während dem Marschieren gar keine so einfache Sache, da ich noch Rucksack, Mütze und Sonnenbrille in der Hand halten muss. Schlussendlich passt alles wieder und kurz darauf bin ich bei der Verpflegung Bergün. Höhepunkt hier ist, dass es zum ersten Mal Cola gibt. Also zwei Becher Cola, zwei Becher Bouillon und Wasserflasche füllen.

Durch Bergün

Aus dem erhofften Zeitgewinn ist leider nichts geworden. Ich bin bis Bergün auf die Sekunde gleich schnell wie letztes Jahr. Ich habe aber das Gefühl, hier letztes Jahr in besserem Zustand gewesen zu sein. Meine Stimmung ist nicht so toll und ich bin deshalb froh, als ich aus dem Dorf und somit aus den Zuschauern raus komme und ins ruhige Val Tours rein kann.

Eingang ins Val Tuors

Der Anstieg ist steiler als ich in Erinnerung hatte und so kann ich ohne schlechtes Gewissen Powerwalken. Es hat aber viele Läufer, welche hier noch joggen und mich überholen. Ich versuche meine Situation zu analysieren und die Erkenntnisse sind nicht gerade erhebend. Streckenmässig habe ich über die Hälfte geschafft. Zeitmässig ist es leider noch nicht die Hälfte. Gegenüber letztem Jahr bin ich zeitlich identisch unterwegs (dachte aber es geht schneller), körperlich bin ich schlechter unterwegs, da meine Wadenmuskeln zu Krämpfen neigen. – Etwas ernüchtert überlege ich kurz, mit dem Zug zurück nach Davos zu fahren und den Nachmittag zu geniessen. Der Gedanke ist aber schnell wieder weg. – Es geht ja heute nicht um den K78 oder eine bestimmte Zeit. Heute ist UTMB-Training und da reicht es ja, wenn ich ein paar Stunden Powerwalk mache. Und es schadet im Prinzip auch nicht, wenn ich ein wenig beissen muss. Denn das werde ich rund um den Mont Blanc definitiv müssen.

Val Tuors

Bewölkung zieht auf und bedeckt teilweise die Sonne. Entlang des kühlen Flusses wird es so richtig angenehm. Ich powerwalke was das Zeug hält und bin soweit zufrieden. Der Aufstieg zur Keschhütte macht mir aber noch Sorgen. – Auf einmal reisst mich „French Rocket“ aus meinen Gedanken. Ich habe sie wohl in Bergün überholt und sie schlägt nun wieder zurück. Es sieht ziemlich mühelos aus, als sie an mir vorbeiläuft. Auch ein Läufer welcher sicher 20 Jahre älter ist als ich, zieht vorbei. Das sind einfach richtige Läufer und nicht so Schildkröten wie ich. Ich bin etwas frustriert. – Das relativiert sich aber, als der Läufer später Pause macht und an einem Energie-Gel nuckelt. Vollgas und wieder Pause kann man auch machen. Ich versuche einfach stetig und nachhaltig vorwärts zu kommen.

Dann die Verpflegung bei Punts d’Alp. Nochmals kräftig Bouillon und Iso-Tee nachschütten, bevor es in den steilen Anstieg zur Keschhütte geht. Höhenmässig sind es etwa 800 Meter. Gemäss meiner Faustformel als rund 80 Minuten Aufstieg. Da ist Geduld gefragt und diese fehlt mir gerade etwas. Ich getraue mich schon gar nicht mehr, nach oben zu schauen. Mein Blick ist auf die nächsten drei Meter Weg vor mir fixiert. Einfach Schritt für Schritt. Ich überhole nun die hintersten Läufer des K36 und kapiere, dass hier alle kämpfen. Egal ob Spitze oder Schluss, hier leidet jeder. Und siehe da, sogar „French Rocket“ ist nicht mehr so leichtfüssig unterwegs und ich kann sie überholen. – Mir fehlt auf einmal die Energie und ich merke, dass ich einen Hungerast habe. Das zweite Knoppers wandert vom Rucksack in den Magen und das fühlt sich sensationell an.

Puls- und Höhenkurve

Ab und zu kommen Wanderer entgegen. Vielleicht haben sie auf der Keschhütte übernachtet oder sind am morgen in Sertig Dörfli gestartet. Ich beneide sie ein wenig dafür, dass sie sich so unbeschwert bewegen können. Ich bin im Wettkampf-Modus und versuche wieder meine Endzeit abzuschätzen. Die grosse Unbekannte in dieser Rechnung ist aber meine Muskulatur. Die Waden ziehen und teilweise krampft es auch vorne am Schienbein. Bei jedem Stolperer erschrecke ich, denn die hektischen Ausgleichsbewegungen sind perfekt um einen richtigen Krampf auszulösen. „Spitz geladen“ hat mal ein erfahrener Läufer diesen Zustand beschrieben. Wie eine Mausefalle, welche bei geringster Erschütterung zuschnappt.

Ich merke, wie mir die Felle davonschwimmen. Vor einer Woche war ich fest überzeugt gewesen, dass ich so 9:45 oder 9:50h erreichen könnte. Nun werde ich auf der Keschhütte schon hinter letztem Jahr zurückliegen. Dass ich es unter 10h schaffe ist ausgeschlossen. Dass ich es wie letztes Jahr knapp drüber schaffe unwahrscheinlich. Da posaune ich raus, dass ich dieses Mal unter 10h bleiben werde und jetzt sieht es nach 10:30 oder je nach Situation noch langsamer aus. Ich wollte doch um 18:00 Uhr Pizza essen mit den Jungs, Omi, Neni, Isabelle und Armin. Und nun so etwas! – Stimmung im Keller. Aber es gibt keinen Ausweg mehr. Zurück dauert zu lange, nach vorne zieht sich einfach. Einzig der Helikopter ab Keschhütte würde die Sache beschleunigen. Aber das wäre schon etwas übertrieben.

Irgendwann „hängt es mir dann wieder ein“. Ich bin hier um für den UTMB zu trainieren. Egal welche Zeit ich laufe, dies spielt eine untergeordnete Rolle. Ich lasse den ganzen Druck jetzt einfach los und marschiere weiter. Die ganzen negativen Gedanken bringen nichts!

Die Keschhütte kommt in Sicht

Die Keschhütte kommt in Sicht und ich versuche abzuschätzen, wie lange ich noch bis da hoch brauchen werde. Spielt keine Rolle. Jetzt marschiere ich einfach mal noch 20 Minuten und sehe dann, wo ich stehe. „French Rocket“ zieht wieder an mir vorbei und zum wiederholten Male denke ich, dass ich sie wohl nicht mehr sehen werde. Eine Minute später aber bereits das wiedersehen. Sie dehnt mit einem Wadenkrampf an einem grossen Felsbrocken. Wie schon gesagt, hier kämpfen alle!

Bei mir wird es auch langsam kritisch. Im rechten Oberschenkel beginnt es zu ziehen. Wenn der zumacht wird es ganz hässlich! – Oben bei der Hütte wartet Bouillon. Jetzt nur durchhalten.  Nur noch 80 Höhenmeter. „French Rocket“ zieht wieder vorbei, als wäre nichts gewesen. Unglaublich die Frau! Sie sucht dann aber die Massage auf und ich begegne ihr später nicht mehr. – Ich versuche beim Fotografen noch ein Lächeln rauszuwinden. Dann ist es geschafft. Am Arzt vorbei und direkt zur Verpflegung. Ich bin fürs erste gerettet. 6:48h sind vorbei. Ich liege nun 7 Minuten hinter der Zeit vom letzten Jahr. Mal sehen, wie es weitergeht.

Bei der Keschütte

Keschhütte – Sertigpass – Sertig Dörfli

3x Bouillon, 2 x Cola, 1x Tee. Dann geht es weiter. Keine Zeit zu verlieren! – Der Downhill runter ins Val dal Tschüvel funktioniert soweit. Ich hänge mich an einen anderen Läufer und konzentriere mich nur auf dessen Füsse. Ab und zu überholen wir langsamere K36-Läufer. Dann mündet auch noch die K47-Strecke ein und es hat nochmals mehr Läufer auf dem Trail. Auch hier ist es eher der hintere Teil des Läuferfeldes und wir sind schneller und können/müssen diese überholen.

Blick ins Val Funtauna

Dann der letzte richtige Anstieg hoch zum Sertigpass. Es sind nur gut 200m, aber auch diese müssen zuerst absolviert werden. Vor mir marschiert ein Pärchen. Wahrscheinlich K47-Läufer. Er macht das Tempo und achtet darauf, dass er sie nicht überfordert. Ich könnte die beiden überholen, da ich leicht schneller bin. Ich entscheide mich aber, den beiden anzuhängen. Und das funktioniert wunderbar. Die beiden sind mir irgendwie sympathisch und das Tempo passt perfekt. Ich fühle mich endlich wieder richtig wohl und auch die Muskeln machen gut mit. Ich bin so zufrieden und entspannt wie schon lange nicht mehr. Nur von der Landschaft bekomme ich nicht viel mit.

Mein Fokus hoch zum Sertigpass: Grüne Socken in roten Salomon-Schuhen

Dann die Verpflegung auf dem Sertigpass. Bouillon und Cola. Eine Gruppe Zuschauer feiert vor der Passhöhe jede Läuferin und jeden Läufer. Das macht Spass und muntert auf. Letztes Jahr lag hier noch ein kleines Schneefeld. Dieses Jahr nur ein paar wenige Resten. Die Wege sind überhaupt auf der ganzen Strecke in sehr gutem Zustand.

Nach 7:50h stehe ich auf dem Sertigpass. Mit 2’739m der höchste Punkt der Strecke. Es ist einer dieser speziellen Momente, in denen du froh bist, endlich oben zu sein, um gleich darauf zu kapieren, dass es jetzt in den Downhill geht und dieser nicht unbedingt angenehmer ist als der Aufstieg.

Sertigpass 2’739 müM

Ich kann nicht richtig einschätzen, wie es abwärts gehen wird. Die ersten Meter sind dann noch recht technisch und es braucht viel Aufmerksamkeit. Dann wird es immer laufbarer. Ich suche mir andere Läufer, welchen ich anhängen kann und konzentriere mich darauf, denen folgen zu können.

Die Reststrecke beträgt keine 20 Kilometer mehr und es wird langsam überblickbar. Auf rund 2’200 Metern wechselt dann die Strecke von Singletrail auf Naturstrasse und man kann es mühelos laufen lassen. Erfreulicherweise zeigt sich mein Körper nun doch noch in einem besseren Zustand als erwartet/befürchtet. Die Füsse machen keine Beschwerden. Die Muskulatur funktioniert abwärts ebenfalls wieder und der Kreislauf war heute ja noch nie das Problem.

Es geht stetig leicht abwärts und ich lasse es einfach laufen. Ich bin schneller als die meisten Leute um mich und überhole am laufenden Band. So macht es Spass und auch der Psyche gefällt das natürlich. Ich geniesse es und will einfach diese einfachen Kilometer so schnell wie möglich abspulen. Es warten noch ein paar mühsamere auf mich.

Ich überhole einen Läufer, welcher sich anscheinend das Fussgelenk übertreten hat. Er stützt sich auf einen Stock und humpelt. Später kommt ein Medizin-Quad entgegen, welcher ihn ins Tal bringt.

Dann kommen 150 Höhenmeter steiler Downhill auf Asphaltstrasse. Die sind kein Problem und ich fliege mit 4:45 Min/km-Pace. Unten folgt aber rund ein Kilometer Flachstück bis Sertig Dörfli. Aus Erfahrung weiss ich, dass die Umstellung von easy Downhill auf Arbeit in der Fläche für mich schwierig ist. Zum Glück erwische ich zwei Läufer welchen ich anhängen kann. Sie laufen genau eine Pace, welche ich mitgehen kann, welche ich aber alleine nicht durchstehen könnte. Wieder bekomme ich von der Landschaft nichts mit und sehe nur Schuhe und Waden vor mir.

Nach 8:43h bin ich in Sertig Dörfli. Nur etwas mehr eine Minute später als letztes Jahr. Die Welt sieht schon wieder viel freundlicher aus als auf der Keschhütte!

Sertig Dörfli – Davos

Ich rufe Schwiegermutter Marion an. Meine Prognose für den Zieleinlauf: Wenn es perfekt läuft, bin ich um 17:00 Uhr (10h) im Ziel, wahrscheinlicher ist aber, dass ich zwischen 17:05 und 17:15 Uhr eintreffe.

Sertigtal

Für einen Finish unter 10 Stunden stehen noch 1:16h für rund 11km zur Verfügung. Das könnte theoretisch reichen, ich glaube aber nicht dran, da ich letztes Jahr diesen Streckenabschnitt total unterschätzt hatte. Ich meinte es geht einfach 11km stetig bergab. Dass es aber auch noch Anstiege drin hat und relativ lange dauert, bis es wirklich abwärts geht, hat mich total fertig gemacht. (Wer ein Höhenprofil lesen kann, ist klar im Vorteil!) Zudem hatte ich Magenprobleme und mir wurde übel, sobald ich rennen wollte. Und so haben mir dann am Schluss 4 Minuten zum 10h-Finish gefehlt.

Der Magen machte mir erfreulicherweise heute noch überhaupt keine Sorgen. Neben den beiden Knoppers habe ich auch immer wieder Bananen gegessen. Der Verzicht auf die Energie-Gels scheint sich in Bezug auf Magenprobleme auszuzahlen. Vom Streckenprofil lasse ich mich heute auch nicht stressen. Flach und abwärts laufe ich, aufwärts Powerwalk. Der Blick geht immer wieder auf die Uhr, wo ich Zeit und Strecke im Auge behalte.

Raus aus dem Sertigtal

Dann geht es endlich runter. Alles funktioniert und ich komme gut vorwärts. Bei der Verpflegung Boden nochmals zwei Becher Cola. Dann vor Clavadel das 5km Schild. Ich checke die Uhr und rechne. Bei einem flachen Strassenrennen würde es reichen. Aber hier wohl nicht. Nochmals ein kurzer Aufstieg nach Clavadel. Ich überlege mir, ob sich der Stress lohnt. Ich könnte auch einfach die letzten vier Kilometer geniessen und den 10-Stunden-Finish abhaken. Es wird ja doch nicht reichen, wieso also der Stress.

Dann kommt mir aber wieder in den Sinn, wie letztes Jahr auf einmal das 2km-Schild aufgetaucht ist und das Rennen plötzlich zu Ende war. – Ich mache einfach mal weiter. Noch vier Kilometer einfach bergab.

Endspurt Richtung Davos

So einfach geht es dann doch nicht. Es hat immer wieder kurze Gegenanstiege drin. Ich bin der Meinung, es kommt kein Anstieg mehr, als beim Bolgen-Sessellift doch noch der letzte kommt. Jetzt ist es definitiv vorbei. Ich hake den 10h-Finish zum wiederholten Male ab. Eine Läuferin joggt im Aufstieg an mir vorbei. Ich gratuliere ihr. Sie weist mich darauf hin, dass sie Teamläuferin (Team „Bergvagabunden“) ist und deshalb wesentlich weniger Kilometer in den Beinen hat als ich. Das stimmt wohl.

Nun bin ich mir sicher, dass es bis zum Bach wirklich nur noch bergab geht und dort dann nur noch so 7 Meter hoch. Ich lasse es weiter laufen und warte sehnlichst auf die 2-Kilometer-Tafel. Diese kommt dann auch bald und als ich die Zeit checke, erkenne ich dass ich noch ungefähr 12 Minuten zur Verfügung habe. Ein Adrenalin oder sonstiger Schub geht durch den Körper und ich drehe nochmals auf. Das kann tatsächlich noch reichen.

Dann die 1-Kilometer-Marke. Das muss nun einfach reichen!!! – Raus aus dem Wald und rein ins Dorf (bzw. die Stadt!). Ich überhole die Bergvagabunden-Läuferin und rufe ihr zu sie soll mitziehen. – Ein paar Meter flach und dann über die Landwasser-Brücke. Die Bergvagabundin überholt mich wieder und ruft mir jetzt zu, ich solle mitziehen. Ich hänge mich an sie und würde mich am liebsten an ihrem Shirt festhalten um nicht abgehängt zu werden. Dann sind auch die allerletzten Höhenmeter geschafft und wir biegen auf die Talstrasse ein.

Ich bin ziemlich am Ende. Die Auswertung meiner Pulsuhr zeigt später einen Maximalwert von 190 Schlägen an dieser Stelle. Der Bergvagabundin kann ich nicht mehr folgen. Ich gebe aber immer noch alles, was ich habe. Ich halte Ausschau nach den Jungs. Vorne direkt vor dem Eingang zum Stadion entdecke ich den Lockenkopf von David. Ich winke ihm zu und er sieht mich auch. Zu meinem Schrecken beginnen die beiden, mir entgegen zu laufen. Nein, rennt in die andere Richtung! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wahrscheinlich schreie ich ihnen zu, sie sollen in die wenden. Auf jeden Fall machen sie die und ich nehme die beiden an die Hände. Ich erkläre ihnen, dass wir pressieren müssen. Das setzen sie sofort um und beginnen mich zu ziehen.

Wir kommen auf die Tartanbahn des Stadions und ich muss die beiden loslassen. Mit gestreckten Armen kann ich nicht in diesem Tempo laufen. – Plötzlich taucht eine junge Frau neben uns auf und streckt mir mein Handy ins Gesicht. Das ist mir im Endspurt aus der Brusttasche der Laufweste gefallen. Herzlichen Dank an dieser Stelle an die aufmerksame Finderin. Remo packt das Handy und trägt es bis ins Ziel.

Nach 9:58:54.9 stoppt die Zeit für mich. Ich kann es kaum glauben, dass es doch noch gereicht hat. Ein echter Krimi!

Zieleinlauf

Nach dem Rennen

Nach dem Rennen ist vor der Pizza. – Ich hole mir ein Erdinger alkoholfrei und setze mich zuerst mal ein wenig hin. David gebe ich die Startnummer und schicke ihn meinen deponierten Rucksack abholen. Das macht er selbständig und tadellos. Das Handy funktioniert trotz Vollgas-Sturz noch und ich checke mal, was meine Laufkollegen so abliefern. Eigentlich alles im grünen Bereich, ausser dass Armin anscheinend auf dem Sertigpass das Handtuch geworfen hat. Ich mache mir ein wenig Sorgen und hoffe, dass er sich nicht verletzt hat oder so.

Nach 20 Minuten Pause machen wir uns auf den Weg zur Dusche. In der Garderobe hier kommen immer nostalgische Gefühle an den T201 auf. Damals habe ich fast nicht getraut, die Socken auszuziehen, weil ich nicht sicher war, was sich an den Füssen noch alles lösen würde. – Heute habe ich keine Probleme und um 18:00 Uhr sitze ich in der Pizzeria. Armin gibt unterdessen auch Entwarnung und so steht einem gemütlichen Nachtessen nichts im Wege. Die Schwiegereltern fahren dann mit den Jungs schon nach Hause und ich bewältige den Heimweg mit Schwiegervaters Fahrrad. Diesmal hilft die Tour beim Muskeln lockern!

Fazit Swissalpine Marathon K78

Ich laufe ja selten mit so klarem Zeitziel. Und ich muss sagen, das Ziel hat bei mir vor allem Stress verursacht. Aus diesem Grund will ich in Zukunft die Sachen wieder lockerer angehen und mich mehr auf das Erlebnis konzentrieren.

Die Woche vor dem K78 war sicher als Vorbereitung nicht ideal. Ich habe zu viel trainiert und hatte auch sonst zu viel Hektik, um körperlich und psychisch ausgeruht am Start zu stehen. Das wäre im Prinzip kein Problem gewesen, da der K78 ja nur als Training für den UTMB diente. Das 10-Stunden-Ziel hätte ich aber unter diesen Rahmenbedingungen vergessen sollen.

Im Hinblick auf den UTMB bin ich zuversichtlich. Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme hat gut funktioniert. Mit den Füssen hatte ich trotz intensiven Laufstrecken keine Probleme. Ich werde sicher die nächsten Wochen weiter intensiv auf dem 1000er-Stägeli trainieren, um die Beinmuskulatur weiter zu stärken. Was mir dieses Jahr fehlt, sind Läufe in der Nacht. Ich denke aber da geht es mehr um die mentale Bereitschaft, als um praktische Erfahrung.

Als Hauptprobe für den UTMB steht noch der Mountainman-Marathon am 19. August 2017 an. Danach gilt es am 1. September um 18:00 Uhr in Chamonix ernst.

12 Kommentare zu Swissalpine Marathon K78 2017 – Punktlandung

  1. Sabine Heiland 31. Juli 2017 um 17:05 #

    Tolle Leistung, wirklich eine Punktlandung. Alles gute für Deine weitere Vorbereitung für den UTMB!

    • Martin Hochuli 31. Juli 2017 um 21:55 #

      Danke, Sabine!

  2. Rainer Schmidt 2. August 2017 um 17:40 #

    Hallo Martin – Super Leistung

    Herzliche Grüße aus Deutschland

    Rainer Schmidt

  3. Bernd Grasmann 2. August 2017 um 19:12 #

    Hallo Martin,

    große Leistung abgeliefert – Chapeau !

    Viele Grüße aus D-66538 Neunkirchen/Saar

    Bernd Grasmann

  4. Bruno 2. August 2017 um 20:06 #

    Salü Martin

    Gratuliere zur tollen Leistung! Schöner Bericht inkl. der Selbstkritik … Lass dich in Chamonix nicht unter Zeitdruck setzen – die Schlusszeit ist völlig nebensächlich, das Erlebnis zählt – und das ist weltweit EINZIGARTIG! Der Hauptteil des UTMB findet im Kopf statt, du schaffst das! Ich drücke dir die Daumen.

    sportliche Grüsse
    Bruno Müller vom UTMB
    (Leider haben wir uns in Davos nicht gesehen, ich habe den T133 genossen)

    • Martin Hochuli 3. August 2017 um 7:37 #

      Hallo Bruno

      Herzliche Gratulation vom T133-Finish! Super Leistung!

      Den UTMB will ich dieses Jahr einfach fertig machen. Die Zeit spielt mir dort wirklich keine Rolle. – Einfach einen fetten Haken drunter setzen!

      Herzliche Grüsse und bis ein andermal!
      Martin

  5. Hansruedi 3. August 2017 um 10:44 #

    Hallo Martin

    Finde Deine Lauf-Berichte immer wieder sehr interessant. Mit grossem Vergnügen lese ich imm er wieder Deine Bericht.
    Mach weiter so…….. und alles Gute für Deine weiteren Läufe.

    Mit freundlichem Gruss
    Hansruedi

    • Martin Hochuli 4. August 2017 um 14:31 #

      Herzlichen Dank für das Feedback, Hansruedi!

      Beste Grüsse
      Martin

  6. Patrick 3. August 2017 um 12:23 #

    Toll gemachter Laufbericht – sehr unterhaltsam. Man spürt die Fast-Krämpfe beinahe schon nur beim Lesen 🙂

    • Martin Hochuli 4. August 2017 um 14:30 #

      Herzlichen Dank für das Feedback, Patrick!

      Beste Grüsse
      Martin

  7. Bernd Grasmann 3. August 2017 um 18:35 #

    Hallo Martin,

    Bzgl. Deiner muskulären Probleme empfehle ich Dir 1-2 Wochen vor einem langen Wettkampf eine Magnesiumkur einzulegen – hat bei mir immer geholfen – selbst bei 100-km-Läufen konnte ich dadurch Krämpfen vorbeugen. Jeden Tag 1-2 Kapseln in der Dosis von 375 mg – es kann selbst dann nichts passieren, wenn Du überdosierst – der Körper scheidet den Rest über den Harn aus. Im Moment nehme ich Multinorm ( ist sogar Laktose – und glutenfrei ) – Ebenso zu empfehlen “ Magnetrans “ – solltest Du das Ganze mal probieren, wäre es nett mir dieserhalb eine Rückmledung zu geben.

    Hau rein und viel Kraft und Erfolg beim UTMB

    Bernd aus Neunkirchen/Saar

    • Martin Hochuli 4. August 2017 um 14:13 #

      Hallo Bernd

      Danke für den Tipp.

      Seit ich versuche genügend Bouillon während den Läufen zu trinken, hatte ich selten Probleme mit Krämpfen. Dieses Mal war aus meiner Sicht das Problem, dass ich Sonntag, Montag, Mittwoch und Donnerstag relativ heftig trainiert hatte und deshalb die Muskulatur ziemlich vorbelastet war.

      Beim K78 ist die Belastung auch recht hoch, da die ersten 30km sehr schnell sind. Das bin ich mir nicht gewohnt.

      Herzliche Grüsse
      Martin