UTMB 2017 – Teil 4 / La Fouly – Chamonix

La Fouly – Champex-Lac  (123 km / 7186 Hm)

Es geht ins letzte Drittel und an die letzten drei Steigungen: Bovine, Catogne und La Flègere. Zuerst aber die „Verbindungsetappe“ nach Champex-Lac. Ab dort geht es dann an die Steigungen. Mein Plan: Bis 22:00 Uhr in Champex-Lac, dann jeweils 4 Stunden pro Berg, das heisst um 02:00 Uhr in Trient, um 6:00 Uhr in Vallorcine, um 10:00 Uhr in Chamonix. Resultat: Finish in 39.5 Stunden. Richtig dran glauben tue ich nicht. Man kann es ja aber mal versuchen.

Höhenprofil UTMB

Die Schlagzeile vom Donnerstag „La Fouly nach Muhrgang von Aussenwelt abgeschnitten“, erleichtert uns nun das Rennen. Statt auf den Trails talabwärts zu laufen, können wir auf der Hauptstrasse bleiben! – Für mich der Himmel. Denn hier kann ich praktisch schmerzfrei laufen und so Tempo machen. Ich hoffe die ganze Zeit, dass es möglichst lange so weitergeht. Und das tut es dann auch.

Regenjacke und – hose habe ich in La Fouly wieder ausgezogen. Das Wetter hatte sich beruhigt und hier unten im Tal ist es auch wärmer. Ich versuche ordentlich zu pushen und habe nur das Ziel, möglichst rasch nach Champex-Lac zu kommen.

Entgegen meinen Erwartungen verschlechtert sich das Wetter dann wieder und es beginnt zu regnen. Regenjacke und -hosen wieder anziehen. Habe ich schon erwähnt, dass die Hose fast nicht über die Schuhe geht? – Die Stirnlampe montiere ich auch gleich. Für diese Nacht die stärkere Silva Trailrunner II.

Nach Issert beginnt dann der Aufstieg nach Champex-Lac. Diesen habe ich gar nicht so richtig in der Rechnung, obwohl er ungefähr 550 Höhenmeter beträgt. Das ist eine Stunde Arbeit! – Ich laufe in einer Gruppe und es funktioniert gut. Allerdings werde ich etwas ungeduldig, denn ich bin nun müde und will einfach möglichst schnell dieses Champex-Lac erreichen.

Unser Mitarbeiter Don Brogli hat mir eine gute Geschichte erzählt. Er war auf Turnfahrt in Champex-Lac, genau am Wochenende als der UTMB war. Im Hotel hätten sie nicht schlafen können, da die ganze Nacht so verrückte Läufer unterwegs waren, welche mit ihren Trekkingstöcken auf der Dorfstrasse einen Heidenlärm gemacht haben. Ja, heute werde ich Lärm machen!

Wir steigen im Wald auf und ich habe keine Orientierung, da ich nicht weiss, auf welcher Höhe Champex-Lac liegt. Deshalb bin ich erleichtert, als oben das erste Haus auftaucht. Es brennt Licht und ich sehe eine hübsche Frau, welche anscheinend am Kochen ist. Es sieht sehr gemütlich aus und ich sehne mich hier draussen in der nasskalten Nacht nach Wärme und Geborgenheit. – Leider kommen wir dem Haus nicht näher, sondern es verschwindet einfach. Die Frau erkenne ich später wieder. Es ist eine Läuferin, welche in der Gruppe vor uns marschiert. – Ich bin wieder einer Halluzination aufgesessen. Diese Nacht kann ja noch spannend werden!

Ich weiss, dass hier das letzte Mal Schlafmöglichkeiten angeboten werden und überlege mir, jetzt einen Powernap zu machen. Wäre wahrscheinlich ein sinnvoller Zeitpunkt. – Die Steigung ist geht dann endlich doch noch zu Ende und es erscheinen echte Häuser. Als es flacher wird und das Gelände offener, merke ich dass ich unter der Regenjacke geschwitzt habe und nun zu frösteln beginne. So diffusionsoffen diese Jacken auch angepriesen werden, es reicht einfach nicht aus.

Um 21:24 Uhr treffe ich am Verpflegungsposten ein. Ich bin seit fast 27 Stunden unterwegs und habe seit fast 40 Stunden nicht mehr richtig geschlafen. Im grossen Festzelt ist es angenehm warm (wenn man von draussen kommt) und es hat sehr viele Leute. Ich versuche die Schlafplätze zu finden, kann diese aber nicht entdecken. Ich suche mir dann einen Sitzplatz und hole mir Suppe und Cola.

Ich bin erschöpft und habe etwas den Fokus verloren. Ich entscheide mich, einfach auf dem Festbank ein Nickerchen zu machen. Ich lege mich auf den Rücken und schliesse die Augen. Das funktioniert kurz gut, leider beginne ich nach kurzer Zeit zu frieren.

Champex-Lac  – Trient  (139 km / 8472 Hm)

Also aufstehen und weiter. – Aber welche Kleidung soll ich anziehen. An den Beinen funktioniert es mit Laufhose und Regenhose. Aber oben? Das Laufshirt ist schon feucht vom schwitzen und ich habe kein Ersatz dabei. Das Thermoshirt will ich mir für den Notfall aufheben und nicht jetzt schon feucht machen. Die Regenjacke ist einfach zu dicht. – Was letzte Nacht funktioniert hat, müsste doch auch diese Nacht funktionieren. Das Laufhemd plus die Nordic Walking-Jacke. Beides aber nicht mehr ganz trocken. Das Wetter sollte aber besser werden. Zumindest waren die Prognosen vom Freitag Nachmittag für Chamonix am Sonntag „schön und trocken“. Und ich komme aktuell sowohl dem Sonntag, wie auch Chamonix näher!

Zur Sicherheit frage ich einen englischen Familienvater, welcher mit seinen beiden kleinen Söhnen seine Frau betreut, nach dem „Weather Forecast“. Er meint auch, es müsse trockener werden. – Regenjacke in den Rucksack, Nordic Walking-Jacke anziehen. Um 22:05 verlasse ich den Posten. Beim weglaufen sehe ich das Zelt mit den Schlafplätzen. Jetzt ist es zu spät, ich bin schon wieder weiter.

Nächstes Ziel ist Trient, welches ich gemäss meinem Plan um 02:00 Uhr erreichen will. – Mein Plan platzt dann sehr schnell, denn statt dass mir wärmer wird, wird das frösteln stärker. So funktioniert das nicht und ich wende nach 200 Metern und marschiere zurück zum Zelt.

Ich bin ratlos. Wie soll ich mich anziehen? – Die Nordic Walking-Jacke hält den Wind zu wenig ab und der Regen ist zu stark, damit sie dicht bleibt. Das funktioniert nicht. Ich muss es noch einmal mit der Regenjacke probieren. Also Jacken tauschen und wieder raus. Das mit dem Powernap lasse ich immer noch sein. Ich will einfach weiter.

Beim zweiten Versuch halte ich etwas länger durch. Aber nach einem halben Kilometer gebe ich wieder auf. Es wird mir einfach nicht mehr warm. Ich studiere das Streckenprofil. Hier bin ich auf nicht mal 1’500 Meter. Ich muss rauf auf über 2’000 Meter. Dort oben erfriere ich schlicht! – Was kann ich tun? Wenn ich das Thermoshirt nehme, funktioniert das für einen Berg und ich erfriere beim zweiten (von dreien). Auch keine Lösung. – Soll ich Silvia anrufen? Sie wird mich in jeder Entscheidung unterstützen, aber lösen kann sie das Dilemma auch nicht.

Jetzt bin ich so gut, so weit gekommen und nun werde ich wegen dem Wetter und der ungenügenden Ausrüstung hier gegroundet. Der UTMB ist so unbarmherzig! – Was kann ich tun? – Ich sehe keine Lösung. Ich beginne mit dem Rückmarsch zum Posten, um dort aufzugeben. – Zum Cutoff habe ich über 3 Stunden. Ich könnte 2 Stunden schlafen und Kleidung trocknen und es dann nochmals versuchen.- Dann komme ich aber erst morgen Nachmittag an und laufe eine „schlechte“ Zeit. Das will ich nicht. – Aber zu Hause hatte ich doch gesagt, egal welche Zeit, nur das ankommen zählt. – Wann werde ich mit dem Bus in Chamonix sein? Wie war der Code für die Hoteltüre? Habe ich im Handy gespeichert. Was sagt Oli, wenn ich ihn mitten in der Nacht wecke? – Läufer kommen mir entgegen. Ich schäme mich wegen meiner Aufgabe. – Verdammt, die haben doch die selben Probleme. Die haben sicher auch nicht alle einen Betreuer dabei. Der UTMB muss doch auch ohne Betreuer zu finishen sein. Verdammt, ich habe den T201 alleine gefinisht! – Aber einen UTMB darf man ja auch abbrechen. Immerhin habe ich dieses Mal 123km geschafft und das Wetter war scheisse. – Aber ich hatte gesagt, dieses Jahr zählt nur dieses Rennen und ich bin sicher, ich habe noch nicht alle Optionen ausgeschöpft. Jetzt werden erstmal die Reserven angezapft!

Streckenplan

Ich stoppe meinen Rückmarsch und konsultiere nochmals das Streckenprofil. Erste positive Erkenntnis: Vor dem Anstieg zum Bovine kommen noch ein paar flache Kilometer und ein Kontrollposten. Bis dort kann ich also experimentieren, ohne gleich den Erfrierungstod zu erleiden. Auf die erste folgt praktisch augenblicklich die zweite positive Erkenntnis: Wenn ich die Regenjacke als dichte Aussenschicht nehme, habe ich mit Thermoshirt und Nordic Walking-Jacke, zwei warme und noch praktisch trockene Innenschichten. Ich nehme das Thermoshirt für den ersten Berg bis Trient und falls notwendig die Nordic Walking-Jacke für den zweiten bis Vallorcine. Wenn ich dorthin komme, ist bereits wieder Tag und ich kann nötigenfalls Kleider trocknen, Oli aktivieren oder warten bis die Temperaturen steigen. Wenn ich bis Vallorcine komme, schaffe ich es auch nach Chamonix!

Im Nachhinein betrachtet ist in Champex-Lac mein „Müdigkeits-Schalter“ gekippt. Mein Körper wollte schlafen und hat das mit frösteln signalisiert. Mein Hirn ist darauf eingestiegen und die Gedanken gingen weg vom Ziel auf „möglichst rasch beenden und ins Bett“. Wie damals beim Irontrail T201 konnte ich in diesem übermüdeten Zustand die Situation nicht mehr „objektiv“ erfassen und bin in die „Abbruch-Schlaufe“ gekommen. Während beim UTMB 2016, beim Zürich Marathon oder beim Ultra Bielersee, die Entschlossenheit gefehlt hat, war sie dieses Mal vorhanden. Mit einem Willensentscheid konnte ich den Schalter wieder zurückkippen und war auf einmal wieder im Rennen.

Die Taktik ist nun auf einmal wieder klar. Nächstes Problem ist aber, dass ich mich nun umziehen muss. Draussen ist mir das zu kalt. Ich brauche einen geschützten Rahmen. Zurück zum Posten habe ich keine Lust, ich will vorwärts. Soll ich in ein Restaurant rein, mich entschuldigen und mich dort kurz umziehen. – Das ist mir dann doch zu peinlich. – Die Rettung kommt von der Swisscom! Direkt auf der anderen Strassenseite steht eine Telefonzelle. Ich kann es kaum glauben, denn die sollten doch alle abgebaut sein. Diesmal ist es nicht mal eine Halluzination. Ich denke ich habe mir das Ding direkt aus dem Universum bestellt! – Also rein, Rucksack über das Telefon gehängt, Regenjacke weg, Laufshirt weg, Thermoshirt an, Regenjacke an, Nordic Walking-Jacke in Plastiksack vor Regen schützen, Rucksack zu und ab  in die Nacht!

Nachdem der Kopf nun wieder klar ist, funktioniert es auch mit der Temperatur bald wieder. Der Regen stoppt dann auch und am Kontrollposten in Plan de l’Au entscheide ich mich, die Regenjacke gegen die Nordic Walking-Jacke zu tauschen. Die Regenjacke benötige ich in diesem Rennen nie mehr und auch die Regenhosen verschwinden später im Rucksack.

So um 23:00 Uhr beginne ich dann den Aufstieg zum Bovine. Ich hänge mich wieder anderen Läufern an und alles funktioniert bestens. Von meinem Höhenprofil weiss ich, dass es auf nicht ganz 1’900 Meter hoch geht. Irgendwie bin ich dann irritiert, dass ich viel höher noch Lampen sehe, obwohl die 1’900 Meter schon fast erreicht sind. Zum Glück taucht vorne schon ein beleuchtetes Haus auf. Das muss der Kontrollposten sein. – Plopp, es war nur eine Halluzination. Ich bin verwirrt. – Von hier oben sieht man runter ins Wallis, genauer nach Martigny. Doch statt einfach die Lichter der Stadt und der Dörfer, setzen sich diese Lichter vor meinem Auge zu riesiegen surrealen Gebäuden zusammen. Ein solches Ding sieht aus wie eine eckige Hochzeitstorte mit mehreren Ebenen. Die Ebene am Boden muss eine Grundfläche von 1 x 1 Kilometer haben. Darüber stapeln sich zwei weitere Ebenen, welche jeweils ebenfalls voller Lichter sind. Das Ding erinnert mich an eine Raumstation oder sonst ein Science-Fiction-Gebilde. Es ist gigantisch gross und steht mitten im Wallis! – So viele Male ich wegschaue, sobald ich wieder runterschaue, ist das Ding wieder da.

Skizze meiner Top-Halluzination

Die Uhr zeigt dann schon gegen 2000 Meter und der Kontrollposten ist immer noch nicht gekommen. Ich bin total verwirrt und orientierungslos. Zum Glück ist der Kurs gut markiert und es hat immer noch genügend Läufer um mich. Irgendwann überschreiten wir den höchsten Punkt und es geht in den Downhill. Nach ein paar Minuten erscheint dann der richtige Kontrollposten „La Giète“, genau auf der richtigen Höhe, aber hinter dem Berg! – Ja, etwas genaueres Streckenstudium würde manchmal nicht schaden!

Viele schnellere Läufer, welche vorher überholt haben, setzen sich hier im Stall hin und trinken etwas. Ich ziehe gleich durch und will den Downhill nach Trient möglichst rasch hinter mich bringen. Es ist schon 01:23 Uhr und es sind noch gut 32 Kilometer bis ins Ziel. Das tönt nicht nach viel, durch einen Schnitt von 4km/h dividiert ergeben sich aber volle 8 Stunden (oder zwei flache Marathons für mich).

Die Füsse sind nun richtig schlimm und der Downhill eine Qual. Etwas Frust steigt auf, da ich dauernd überholt werde. Insgesamt gewinne ich aber immer noch Plätze und bin in laufe in Trient auf Rang 876 ein. Bevor es soweit ist, muss ich aber noch etwas leiden. Ich orientiere mich ja nur am Streckenprofil, habe aber keine Ahnung, wie das ganze in der Landschaft liegt. Und deshalb kann ich meinen Fortschritt nicht abschätzen, insbesondere auch, da die Uhr ja eine völlig falsche Kilometerzahl zeigt.

Vor Trient mache ich mir Hoffnungen, dass ich mich orientieren können sollte, da wir auf der Hinreise hier durchgefahren sind. Aber ehrlich gesagt: Ich habe keinen Plan! – Später auf der Heimfahrt behaupte ich Oli gegenüber sogar an einer Stelle, hier sei ich sicher nicht durchgekommen, bis er mir die Pfeile am Boden zeigt.

Um 02:38 treffe ich in Trient ein. Ich will rasch weiter. Ich ziehe die Regenhosen aus, was ja immer Spass macht. Esse ein Schoko-Cookie und trinke Cola. Auf Nudelsuppe habe ich keine Lust mehr und habe auch nicht das Gefühl, solche zu brauchen, da immer noch absolut kein Anzeichen von Krämpfen. In Champex-Lac hatte ich die glorreiche Idee, ein Trinkflasche mit ein paar Dezilitern Cola zu füllen. Dies wiederhole ich hier. Zum Glück hatte ich vor dem losrennen noch kapiert, dass mir die Flasche explodiert oder ähnliches, wenn das Cola von der Bewegung geschüttelt wird. Wenn ich die Flasche aber nicht ganz zuschraube, kann der Druck schadlos entweichen. Die Idee hatte sich als tauglich erwiesen und so fülle ich hier auf.

Trient – Vallorcine (149 km / 9282 Hm)

Nach 14 Minuten Pause (davon gefühlte 9 Minuten Regenhosen), verlasse ich um 02:52 Uhr Trient. Es folgt der zweitletzte Anstieg. 800 Höhenmeter hoch zum Catogne sind zu überwinden.

Von der Strecke nehme ich nicht viel auf. Was nun aber ganz krass wird, sind die Halluzinationen. Ich habe so was noch nie erlebt. Das Prinzip ist immer das selbe: Ich schaue nach vorne und sehe etwas, das von einem Läufer vor mir beleuchtet wird. Statt einem Stein oder Baum, sehe ich dann ein Haus, einen Panzer, einen Spielplatz, eine Leiter, ….. – Ansatzlos und völlig natürlich. – Ich hatte immer gedacht, das kommt wenn man an seine Grenzen kommt und völlig erschöpft ist. Klar bin ich müde, aber sonst in gutem Zustand und betreffend Anstrengung völlig im grünen Bereich.

Aufwärts beschäftige ich mich neben den Halluzinationen nun langsam damit, was ich im Ziel machen will. Im Prinzip ganz einfach: Finisher-Weste abholen, Glace essen, einen Angeber-Facebook-Post absetzen, duschen, schlafen. Zu klären ist noch, wie viele Kugeln Glace, welche Aromen und wie der Facebook-Post möglichst reisserisch lauten soll.

Abwärts beschäften mich vor allem meine Füsse. Hotspot Nr. 5 taucht jetzt auch schon im Viertelstundentakt auf. Die Dinge werden schlimmer. Ich will nur noch nach Vallorcine. Wenn ich das schaffe, schaffe ich auch Chamonix. Der letzte Berg wurde ja noch vereinfacht und wir müssen nicht ganz hoch.

Und tatsächlich schaffe ich es wieder auf meinen ursprünglichen Plan für die Nacht zurückzukehren. Um 5:47 Uhr treffe ich in Vallorcine ein. Ein Läufer vor mir humpelt fürchterlich langsam Richtung Posten. Ich kann auf der Ebene noch joggen und fühle mich super stark. Ich will gar nichts mehr zu mir nehmen, mache aber eine letzte Toilettenpause. Vier Mal Toilette in einem Ultra. Das hat es ja bei mir noch nie gegeben. Ich werte es aber als gutes Zeichen. Alle Systeme funktionieren ordnungsgemäss und ich habe genügend Flüssigkeit und Verpflegung zugeführt.

Vallorcine – La Flègere (159 km / 10’207 Hm)

Nach acht Minuten Pause, verlasse ich um 5:55 Uhr den Vallorcine. Die Infotafel am Ausgang weist als nächste Station nicht La Flègere, sondern den Col des Montets aus. 4 Kilometer mit 200 Höhenmetern werden angegeben. Der Abschnitt welcher nun folgt, gehört für mich zu den spassigsten des ganzen Rennens.

Der Tag ist angebrochen, ich fühle mich stark und wir kommen auf einen guten, stetig leicht ansteigenden Weg. Hier heisst es: Stöcke in den Boden und Powerwalken was das Zeug hält. Ich finde einen guten Rhythmus und komme in einen richtigen Flow. Nach ein paar hundert Metern muss ich meine Füsse über eine Tetrapack-Milchtüte oder etwas ähnliches heben. Ich ärgere mich, dass solche Sachen einfach weggeworfen werden. Es beschleicht mich dann aber ein komisches Gefühl und tatsächlich, da liegt schon wieder so ein weisser Stein, welcher mit den von mir drauf-halluzinonierten Mustern, aussieht wie ein Tetrapack. Jetzt wirds wild. Der Weg ist mit faustgrossen Steinen gespickt und auf allen erscheinen plötzlich Muster und Kinderfiguren wie Mickey Mouse etc.. – Alles ist voll davon. Schlussendlich beginne ich den Steinen Fragen zu stellen und diese zeigen dann die Anworten an.

Da die meisten anderen Läufer in schlechterem Zustand sind, hole ich auf diesem kurzen Stück 61 Ränge auf, wobei die meisten davon im  Verpflegungsposten . Erst nach 3 Kilometern finde ich meinen Meister in einer jungen Französin, welche mich überholt. Ich kann ihr aber anhängen und geniesse das Wettrennen mit ihr. Als es nach dem Pass leicht abwärts geht, wechsle ich in den Laufschritt und kann sie stehen lassen. Sobald es dann aber in die Steigung geht, zieht sie bald an mir vorbei und ich sehe sie nie mehr.

Ich werfe meinen letzten „Powerbar Powergel Shot“ mit Cola-Aroma ein. Am Salon du Trail direkt vor dem Rennen hatte ich mir eine Packung für 1.50 Euro gekauft. Ich glaube, noch nie haben mir 1.50 Euro so viel Freude bereitet. Die Dinger geben einen angenehmen Cola-Geschmack (inklusive Kindheitserinnerungen an Cola-Frösche), etwas Energie und vor allem einen Schub Koffein. (Das Glücksgefühl entfaltet sich natürlich vor allem in Kombination mit 40-Stunden-Ausdaueraktivitäten!)

Aufstieg im Morgennebel Richtung La Flègere

Es ist noch etwas neblig, aber man spürt bereits, dass die Sonne die Feuchtigkeit bald wegheizen wird. Ich geniesse die trockene Witterung und die trockenen Trails.

Ich freue mich auf La Flègere, da oben ist der Mist dann tatsächlich geführt. Der Downhill wird zwar mühsam werden, aber nötigenfalls komme ich auch auf allen Vieren noch nach Chamonix. Einen Pacemaker finde ich hier nicht mehr. Das Feld hat sich jetzt tatsächlich aufgelockert. Ich marschiere ein gleichmässiges und nachhaltiges Tempo. Vor mir stoppt eine hübsche Läuferin, um die Jacke auszuziehen. Und tatsächlich, nach unzähligen Nationen und rund 150 Kilometern nach Richi, treffe ich endlich wieder eine Schweizerin an. Sie ist allerdings aus der Westschweiz und ich kann mit meinen beschränkten Französischkenntnissen nicht richtig landen.

Die Enttäuschung darüber verfliegt bald, denn eine viel grössere Enttäuschung folgt. Die Steigung stoppt und geht in einen Downhill über. Das ist eh schon unangenehm. Dieses Ding ist dann aber auch noch super technisch mit vielen Blocksteinen und hohen Stufen. Du weisst, du musst hoch und der Weg führt immer weiter runter. Jeden Meter den du absteigst wirst du wieder aufsteigen müssen. Und die Füsse sind die Hölle. – Als ich langsam überbeisse, kommt der Hammer. Vor mir taucht unter einem Felsvorsprung plötzlich ein Nachtlager auf. Matten, Schlafsäcke, Kleider, Lampen, ein Zelt steht dort, sogar ein MaxiCosi. Aber kein Mensch sichtbar. Ich denke, jetzt bin ich komplett hinüber und statt Glace gibt’s im Ziel den Psychiater. Dreissig Meter nach der Stelle schaue ich zur Sicherheit zurück und das Zeugs ist immer noch da. Ich glaub es immer noch nicht richtig. – Da kommt der nächste Läufer um die Ecke und an seiner Reaktion kann ich ablesen, dass er wahrscheinlich die selbe Wahrnehmung wie ich hat. Einen Reim darauf kann ich mir nicht machen, aber ganz durchgeknallt bin ich anscheinend doch noch nicht.

Irgendwann geht es dann horizontal Richtung Chamonix. Ich versuche zu pushen, so gut es geht. Die 40 Stunden liegen im besten Fall immer noch in Reichweite. Dann steigt die Strecke wieder an und es geht endgültig hoch nach La Flègere.

Die vermeintlich letzten Meter im Aufstieg

Im vermeintlich letzten Aufstieg gebe ich nochmals Gas und gehe etwas an die Grenzen. Oben stellen wir dann aber fest, dass es nochmals rund 50 Meter höher geht. – Egal, die nehmen wir auch noch.

Und dann endgültig der letzte Anstieg

Vor Erleichterung knipse ich ein Foto des Zelts. Das Rennen ist gelaufen! Nun nur noch runter. Die Endzeit steht noch nicht fest, die wird sich nun im Downhill ergeben.

Der letzte Verpflegungsposten: La Flègere

La Flègere – Chamonix (167 km / 10’253 Hm)

Ich marschiere ohne Halt direkt durchs Zelt. Auf der anderen Seite ein kurzer Fotohalt, da sich der Mont Blanc durch die Nebelwand kurz zeigt. Habe ich den doch noch mal gesehen, dieses Wochenende.

Es ist 8:50 Uhr, ich bin 38:20 Stunden unterwegs. Es sind noch 7 Kilometer mit 850 Höhenmetern abwärts zurückzulegen. Theoretisch in einer Stunde möglich. Mit meinen Füssen kann das nun aber auch zwei Stunden dauern. Ich rufe Silvia an und kündige ihr den Finish in 1.5 bis zwei Stunden an, damit sie das Ereignis live per Webcam verfolgen können. Ich will sie nochmals anrufen, wenn ich 2 Kilometer vor dem Ziel stehe. – In der Schweiz ist heute Kinotag und man kann für CHF 5.- ins Kino. In 1.5 Stunden werden sie einen Kinderfilm schauen. Mein Finish passt nicht richtig ins Familienprogramm. 🙂

Der Mont Blanc zeigt sich mir doch noch kurz während des Rennens

Die ersten Meter abwärts sind steil und mühsam. Ich wünsche mir einen laufbaren Pfad und bekomme diesen bald. Auf diesem trabe ich locker abwärts. Wenn es so weitergeht, reicht es für den 40-Stunden-Finish. Geht es aber nicht! – Die Route wechselt auf einen typischen Stein und Wurzel-Trail. Ich bekomme die Krise und sehe schon, wie ich nun von einem Läufer nach dem anderen eingesammelt werde und schlussendlich nach 40.5 Stunden im Ziel bin.

Ich überlege mir, wie Kilian Jornet oder wer immer auch das Rennen gewonnen hat, hier runtergestürmt ist. Der erledigt das in gut einer halben Stunde! – Genau in diesem Moment werde ich überholt. Es ist kein Läufer, sondern ein Betreuer. Er hat einen recht grossen Rucksack auf dem Rücken, und rast in einem Affenzahn diesen Hügel runter. Ich beobachte wie er das macht. Kleine, schnelle, sicher gesetzte Schritte. Es ist eher ein tanzen, denn laufen. – So mache ich das jetzt auch! Ich versuche ihn nachzuahmen und es gelingt viel besser, als erwartet. Mit dieser Technik bin ich schneller und habe weniger Schmerzen. Jetzt komme ich in den Rennmodus. Bald falte ich die Stöcke zusammen und befestige diese vor der Brust. Die brauche nun keine Stützen mehr, ich tanze runter. Ab und zu werde ich zwar noch überholt, meist kann ich nun aber überholen und teilweise müssen ganze Gruppen dran glauben.

Auf einmal scheint sogar eine Zeit unter 39.5 Stunden erreichbar. Ich lasse es einfach laufen und marschiere praktisch keinen Meter mehr bis ins Ziel. Ich kann es kaum fassen. In Zürich mochte ich nach 30km nicht mehr laufen, in Biel habe ich nach 45 flachen Kilometern das Handtuch geworfen. Und hier bin ich nach über 160 Kilometern voll am attackieren. Da läuft so unglaublich viel im Kopf ab!

Ich checke dauern die Zeit und die Höhe. Chamonix kommt definitiv näher, aber die Uhr tickt auch gnadenlos weiter. – Dann die Erleichterung. Aus dem Wald geht es in die Häuser.

Rein nach Chamonix

Ich rufe Silvia an, welche noch nicht im Kino ist. Den letzten Kilometer kenne ich auswendig. Dem Fluss nach runter, dann über die Brücke, leicht aufwärts an den Rand der Innenstadt. Dann in die Innenstadt rein, zuerst abwärts, dann Linkskurve. Oli steht am Streckenrand und wir klatschen uns kurz ab.

Noch einmal durch die Pampe

Runter zur Brasserie, wo wir vor dem Rennen gegessen haben. Ich schaue mich immer wieder um. Ein Läufer folgt im Abstand von vielleicht 80 Metern. Ich will nicht, dass er mich noch überholt. Rechskurve, dann nochmals Rechtskurve beim Kaffee durch. Nochmal Blick zurück. Er kann mich nicht mehr holen. Ich komme auf die Zielgeraden und sehe den Zielbogen vor mir. Die Leute jubeln, klatschen, feuern an und schlagen auf die Abschrankungen.

Es ist geschafft!

 

Auf der Zielgeraden

Ich habe es geschafft! Am Sonntag Morgen, 9:58 Uhr, nach 39h 27′ 51″ habe ich die 167 Kilometer und 10’000 Höhenmeter geschafft. Ich erreiche den 685. Rang von 2537 gestarteten und 1687 Finishern.

Ein grosses Ziel ist erreicht! Ich bin etwas stolz, sehr glücklich und vor allem sehr sehr dankbar!

Die Erlösung

 

Meine Zwischenzeiten

UTMB 2017 – Teil 1: Vorgeschichte
UTMB 2017 – Teil 2: Chamonix – Lac Combal
UTMB 2017 – Teil 3: Lac Combal – La Fouly
UTMB 2017 – Teil 4: La Fouly – Chamonix
UTMB 2017 – Teil 5: Nach dem Rennen

2 Kommentare zu UTMB 2017 – Teil 4 / La Fouly – Chamonix

  1. Bernd Grasmann 10. September 2017 um 16:53 #

    Hallo Martin,

    Hut ab vor Deiner Leistung – vor allem vor Deiner mentalen Stärke dieses Ungetüm zu finishen. Dein Bericht war – mal wieder – sehr detailliert und hat mich richtig gehend mitfiebern lassen.
    Herzlichen Glückwunsch und viele Grüße aus Neunkirchen im Saarland.

    Bernd Grasmann

    • Martin Hochuli 12. September 2017 um 7:42 #

      Hallo Bernd

      Danke für die Glückwünsche und das Feedback!

      Herzliche Grüsse
      Martin