Altdorf – Klausenpass – Linthal
Richtig Ruhe finde ich auf dem Rasen nicht. Gegenüber wird ein Fussballspiel angepfiffen und die Gartenwirtschaft füllt sich mit quasselnden Gästen. Aber am schlimmsten sind die Ameisen. Diese kraxeln über den ganzen Körper bis in die Ohren. So bin ich fast schon froh, als unsere Stunde „befohlene“ Ruhe vorüber ist. Zwar keinen Schlaf gefunden, der Körper konnte sich aber trotzdem etwas regenerieren.
Schon beim Nachtessen haben wir die Taktik für die nächste Etappe besprochen. Wir (Läuferinnen) waren davon ausgegangen, dass wir auf dem Klausenpass oder Urnerboden nochmals einen Schlafplatz erhalten würden. Die Betreuerinnen wollen aber erst in Linthal die nächste grosse Rast ansetzen. Falls wir es bis zum Morgen nach Linthal schaffen würden, wäre die Chance vorhanden, am Sonntag Nacht Vaduz zu erreichen.
Diese Chance wollen wir Brigitte offen lassen und so sind wir mit dem Etappenort Linthal einverstanden. Die Situation sieht also so aus:
- Wo sehen wir die Betreuer wieder? – Linthal
- Wie weit ist es bis dort? – ca. 41km
- Wie lange benötigen wir? – 10 bis 12 Stunden (Ankunft ca. 05:00 Uhr bis 07:00 Uhr)
- Passübergang? – Klausenpass, 2289 müM, Aufstieg gut 1400Hm
Ich hatte die Frage aufgeworfen, ob Brigitte an der original Via Alpina-Route festhalten will oder ob wir vom Urnerboden nach Linthal direkt absteigen könnten, statt den Bogen über Braunwald zu machen. Die Möglichkeit Vaduz zu erreichen wird höher bewerten, als die Original-Route. Somit können wir vielleicht noch eine Stunde rausholen.
Briefing in Altdorf
Nach 19:00 Uhr marschieren wir los. Kein joggen, nur marschieren. So komme auch ich mit. Standardreihenfolge Aufstieg: Brigitte, Anja, Martin. In Bürglen überholen uns Karin und Andrea mit den Autos. Sie haben die Aufgabe, uns Unterkunft und Verpflegung in Linthal zu organsieren. Von den Betreuerinnen wird viel Flexibilität, Improvisation, Einfühlungsvermögen und vor allem Geduld verlangt. Die Läuferinnen stehen immer im Mittelpunkt, ohne zuverlässige Betreuung wären aber deren Leistungen gar nie möglich.
Ich bin etwas skeptisch, ob wir es ohne Ruhehalt bis Linthal schaffen. Die Etappe ist ähnlich wie diejenige von gestern Nacht. Allerdings noch länger. Auf dem Urnerboden gäbe es es verlockende Gelegenheiten, Unterschlupf zu finden. Ich hoffe Brigitte und Anja können nach einer Reise von mittlerweile über 85 Stunden und 220 Kilometern, diese nahezu Marathondistanz durchziehen. Bei mir mache ich mir weniger Sorgen wegen dem Schlaf. Die körperliche Leistungsfähigkeit könnte bei mir aber der Engpass werden.
Die Dämmerung setzt ein, als wir immer weiter ins Schächental reinlaufen. Irgendwann ist es Zeit, die Stirnlampen in Betrieb zu nehmen. Einen Schreck kriege ich, als uns unterhalb Spiringen unvermittelt ein Jugendlicher vollgas rennend entgegenkommt. Kurz später nochmals zwei Personen. Wahrscheinlich wollen sie zur Bushaltestelle unten auf der Hauptstrasse, um am Samstag Abend in den Ausgang zu gehen. Für uns sind es die letzten Menschen, welchen wir heute begegnen.
Der Weg führt höher und höher und interessant sind die grossen Temperaturschwankungen die es gibt. Es gibt Zonen mit einem kühlen Wind, wo wir die Jacken anziehen. Dann wird es auf einmal wieder richtig mild und die Jacke ist fast zu warm. Es wechselt immer wieder und ich frage mich, woher der Effekt kommt. Insgesamt sind die Bedingungen aber sehr gut.
Ich bin froh, dass ich nun wieder gut mit der Pace der Frauen mitkomme. „George“ erledigt die Navigation zuverlässig und Anja’s „Nameless“ Suunto dient als Backup. Lustigerweise wird mir von den beiden immer wieder das „Dragon’s Back Race“ empfohlen, da ich so gut navigieren könne. Dabei navigiere ich ja gar nicht!
So um 22:30 Uhr haben wir dann den Hauptaufstieg geschafft. Leider sind wir immer noch rund 7 Kilometer vom Klausenpass weg und müssen zuerst auf einem Höhenweg rüber traversieren. Ähnliche Situation wie gestern von der Planplatten zum Jochpass.
Brigitte verlangt nach einer Verpflegungspause und wir spielen wieder mal Schulreise. Ich bin dabei dasjenige Kind, welches nichts teilt, dafür aber bei allen anderen Kindern die Sachen abholt, welche deren Mütter zu viel eingepackt haben. Immerhin kann ich ein Taschenmesser zur Verfügung stellen, damit „Lehrerin“ Anja, für uns alle feine Apfelschnitze schneiden kann.
Bevor wir zu frieren beginnen, marschieren wir weiter. Wiederum Parallelen zur gestrigen Nacht. Es geht dauernd etwas auf und ab. Müde und mit Stirnlampen können wir aber nicht richtig Tempo machen, da der Weg zu technisch ist.
Um 23:30 sind wir beim Weiler Heidmannegg. Das Alpbeizli hat natürlich nicht geöffnet. Daneben gibt es aber einen Selbstbedienungs-Hofladen. Wir studieren das Angebot und mir läuft bereits das Wasser im Mund zusammen, als ich Trockenwurst lese. Die Frauen favorisieren eine Flasche Molke. Schlussendlich ziehen wir „ohne Beute“ ab. Trockenwurst hat es keine im Kühlschrank und für die Molke (3.-) haben wir nur eine 10er-Note dabei. Das Trinkgeld ist uns dann doch zu gross, da wir nicht sicher sind, ob die Mägen die Molke überhaupt vertragen. Besser kein teures Risiko eingehen.
Ich checke wieder mal die Landkarte und leider sind wir immer noch 4 Kilometer (rund eine Stunde) vom Klausenpass entfernt. Das Team harmoniert nach wie vor ohne Probleme, aber es ist zermürbend, wenn man das Gefühl hat, nicht vorwärts zu kommen. Im Gegensatz zum X-Alpine und T88 habe ich dieses Mal die Geduld, einfach so lange zu machen, wie es brauchen wird. Körperlich geht es mir soweit auch gut. Die rissigen Füsse nerven etwas. Blasen hatte ich aber noch gar keine. Muskelkrämpfe auch nicht. Die Aufregung über das tolle Abenteuer, welches ich hier erleben darf, überwiegt die Müdigkeit, welche sich langsam aufbaut.
Um Mitternacht erreichen wir die Passstrasse zum Klausen. Tagsüber wäre hier wohl die Hölle los. Nun haben wir den Asphalt für uns alleine und müssen zuerst ein paar Meter abwärts laufen, bevor wir wieder auf den Trail und den letzten Anstieg zum Pass kommen. Diesen erreichen wir dann um 0:30 Uhr. 20 Kilometer in rund 5.5 Stunden. Soweit okay. Allerdings ist das erst die halbe Strecke bis Linthal.
Brigitte braucht einen Powernap und wir besetzen das Damen-WC als Ruhezone, während wir das Herren-WC als Toilette benutzen. Stört um diese Zeit niemanden. – Nach 20 Minuten geht es weiter. Ich bin froh, mich wieder bewegen zu können, da ich auf dem Plattenboden bereits wieder zu frieren begonnen habe.
Im Downhill zum Urnerboden analysiere ich unsere Lage. Linthal können wir noch vor dem Morgengrauen erreichen, falls wir keine Pause mehr machen müssen. Für zwei Stunden Schlaf benötigen wir ca. 3 Stunden Pause. Somit wäre es möglich, noch vor 9:00 Uhr wieder loszuziehen. Bis Elm sind es knapp 25 Kilometer, das heisst 6 bis 7 Stunden. Somit könnte Elm um 15:00 Uhr erreicht werden und es bliebe noch genügend Zeit vor dem Eindunkeln den Foopass ins Weisstannental zu überqueren. Vaduz liegt bis Mitternacht also tatsächlich noch in Reichweite! – Nicht für mich, aber Brigitte hatte ja in Altdorf schon angekündigt, dass sie durchziehen würde, egal was es kostet.
Mein Plan war es ja, in Linthal auszusteigen und nach Hause zu fahren. Es macht aber momentan so viel Spass, dass ich gerne noch eine Etappe anhängen würde. In Linthal werde ich etwa 125 Kilometer auf der Uhr haben. Das ist schön, aber in Elm hätte ich wohl fast 150 Kilometer, was doch ein Stück besser tönen würde. Ich setze mir als Deadline 09:00 Uhr. Falls wir vorher starten können, gehe ich mit, falls es später wird, fahre ich nach Hause.
Ich informiere Brigitte über meine Überlegung, bis Elm mitzulaufen, falls wir rechtzeitig wegkommen. Anscheinend findet sie es eine gute Idee, denn sobald wir auf dem Urnerboden sind und es flach und laufbar wird, fängt sie die elende Joggerei wieder an. Die Mädels sind läuferisch viel stärker als ich, trotz mittlerweile 285km in den Knochen. Obwohl ich kämpfen muss, um den Anschluss nicht zu verlieren bin ich grundsätzlich froh, dass es rasch vorwärts geht. Von Karin habe ich die Info erhalten, dass uns in Linthal Suppe und ein Bett erwartet. Dort will ich möglichst rasch hin und nicht nochmals eine improvisierte Hütten-Rast erleben.
Zu sehen gibt es in der Nacht nicht viel. Einmal scheuchen wir ein Rudel (sicher 8 Stück) Rehe auf, welche dann vor uns den Trail und nachher den Bach durchqueren. Imposante Vorstellung! Des weiteren staune ich, wie viele Camping-Busse in dieser Region verteilt sind. Überall stehen diese mit aufgestellten Hochdächern einzeln oder in Gruppen zusammen. Irgendwann besitze ich auch so ein Ding!
Brigitte ist immer noch müde und bittet Anja die Führung zu übernehmen. Diese geht voraus und ebnet uns den Weg. Ich bin wahnsinnig beeindruckt von den beiden Frauen. Brigitte treibt der schiere Wille an, einfach das Ding durchzuziehen und nach Vaduz zu kommen. Anja strahlt für mich so viel Stärke und Souveränität aus. Irgendwie unzerstörbar! Faszinierend! – Für mich sind beide eine riesen Inspiration und ich bin dankbar, dass sie mich aufgenommen haben und ich so viel lernen darf. Die Mädels haben es echt drauf!
Unser Motto lautet nun, auf dem kürzesten/schnellsten Weg nach Linthal. Am Ende des Urnerbodens werden dann zwei Wege ausgeschildert. Einer wird 15 Minuten kürzer angegeben und nach einem kurzen Check auf der SchweizMobil-App entscheiden wir uns für diesen. Ab sofort sind wir nicht mehr auf der Via Alpina und deshalb kann uns „George“ nicht mehr helfen. Ich übernehme die Navigation mit der App, was ziemlich idiotensicher ist, solange man GPS-Empfang hat. Deshalb muss ich auch schmunzeln, als Brigitte immer wieder meine super Fähigkeiten als Kartenleser lobt.
Der Pfad ist dann anfangs sehr sehr technisch und ich bereue schon fast, dass wir diesen gewählt haben. Wir wissen aber nicht, ob der andere besser gewesen wäre. Auf jeden Fall braucht es nochmals einiges an Geduld und Konzentration, um unfallfrei runter zu kommen. – Irgendwann sind wir dann unten im Tal. Noch eine Viertelstunde entlang der Linth, beim Kraftwerk für die Brücke, die Böschung hoch und rein nach Linthal.
Kurz vor 4:30 Uhr treffen wir am Treffpunkt bei der Kirche ein und werden dort von niemandem erwartet. – Karin und Andrea sind uns entgegen gegangen, haben uns aber irgendwie verpasst. Der Irrtum wird bemerkt und bald sind wir glücklich vereint. Wir beziehen unsere Unterkunft im „B&B näbed der Chilchä“. Wir sind müde, aber sehr zufrieden, dass wir die lange Etappe genau im Plan geschafft haben.
Suppe essen, Rivella trinken, Füsse eincrèmen und ab ins Bett. Wir einigen uns auf zwei Stunden Schlaf. Ich kriege das Einzelzimmer und versuche möglichst rasch Ruhe zu finden, damit es vielleicht ein paar Minuten länger als zwei Stunden Schlaf gibt. Anja hat sogar noch die Kraft um eine Dusche zu nehmen. Ich denke an meinen Vater, welcher uns als Kinder immer gesagt hat: „Der Dreck fällt im Bett schon ab!“.
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