Adelboden – Kandersteg
Der Tag geht los, bevor der andere vorhergehende fertig ist. Um 23:30 Uhr werde ich von einem massiven Gewitter geweckt. Genau für das hat man ein Panoramafenster. Ich geniess es, hinter der Glasscheibe dem Schauspiel draussen beizuwohnen. Die Intensität steigert sich von Minute zu Minute und am Schluss hagelt es recht zünftig. Irgendwann ist der Spass dann vorbei und ich finde wieder in den Schlaf.
Am Morgen geniesse ich es, noch ein wenig im Bett zu liegen. Erst vor 7:00 Uhr stehe ich dann auf, packe alles zusammen und mache mich auf den Weg. Dieser führt aber vorerst nur zur Bäckerei in der Nachbarschaft. Dort decke ich mich mit einem Mandelgipfel und ausreichend Cola/Apfelschorle ein. Auf reines Wasser habe ich nicht mehr so richtig Lust und um den Flüssigkeitsbedarf zu decken, will ich mehr Süssgetränke einsetzen.
Zufrieden und entspannt mache ich mich dann um 7:45 Uhr auf den Weg. Und verpasse prompt die erste Abzweigung! Die schnurgerade Dorfstrasse von Adelboden scheint zu kompliziert für mich. Der Irrtum ist rasch bemerkt und wird mit 50 Meter zurücklaufen umgehend korrigiert. Zuerst geht es runter zum Talboden und ich putze mal den Mandelgipfel weg. Als ich die Hände wieder frei habe, studiere ich mal die Route für heute. – Ich stelle fest, dass meine lückenhafte Vorbereitung langsam legendär wird. Die Etappe bis Kandersteg ist statt 14km wie ich im Kopf hatte, ganze 16km lang. Mein Tag verlängert sich also von 31km auf 33km. Zudem stelle ich fest, dass der Pass nach Kandersteg „Bunderchrinde“ heisst und fast 2’400m hoch ist. 1150 Höhenmeter Aufstieg warten, welche ich dann vollständig wieder absteige, da Kandersteg nicht höher als Adelboden liegt. Und am Nachmittag steht dann der 1’600 Höhenmeter Aufstieg aufs Hohtürli an. – Die zwei Via-Alpina-Etappen haben es also ziemlich in sich. Und wenn mir das um 6:00 Uhr im Bett bewusst gewesen wäre, dann hätte ich mich wohl nicht noch ein paar Mal umgedreht.
Es hat ein wenig abgekühlt. Da aber die Luft sehr feucht ist, fühlt es sich schon am Morgen drückend an. Die Feuchtigkeit sammelt sich als Nebel und in den Wäldern ergibt sich ein mystische Stimmung. Es sind noch keine Leute auf den Wanderwegen und ich geniesse die Ruhe für mich alleine.
Ich fühle mich gut und komme auch gut vorwärts. Beim Routenstudium erschliesst sich mir dann die Namensgebung „Bunderspitz“ für das Rahmschnitzel von gestern. Der Bunderspitz ist ein Berg und die Bunderchrinde ist der Pass in der Nähe dieses Berges. Das „Bunderspitz“-Rahmschnitzel liefert also die Energie, um über die Bunderchrinde zu kommen. Passt ja.
Auf rund 1’800 Metern komme ich dann aus dem Nebel und teilweise in die Sonne. Es hat aber immer noch viele Restwolken und ist etwas verhängt. Ich erfreue mich am wechselnden Wolkenspiel und marschiere zügig weiter. Ziel ist, dass ich vor 20:00 Uhr auf der Griesalp beim Nachtessen sitze. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.
Von rund 1’900 Meter bis 2’100 Meter geht es dann wieder über eine anstrengende Steilstufe. Ich sehe Personen über mir und denke, dass diese wohl nicht im Tal unten gestartet sind, sondern auf einer Alp übernachtet haben. Als die Steilstufe überwunden ist, überhole ich dann das junge Paar, welches bei der letzten Hütte vor dem Pass eine Pause macht. Sie haben recht grosse Rucksäcke dabei und sind wohl auf der Via Alpina unterwegs.
Der Pass zeichnet sich dann sehr markant am Horizont ab und der Ausschnitt im Horizont wird durch das Gegenlicht besonders schön sichtbar. Ich kann sogar schon den Wegweiser erkennen, welcher oben steht. Der Weg bis dahin ist auch klar. Zuerst noch 100 Höhenmeter über eine Alpweide, dann die letzten 200 Höhenmeter durch ein Geröllfeld. Am Schluss sehr steil.
Über die Weide geht es sehr flüssig. Das Paar hinter mir hat sich inzwischen auch wieder in Bewegung gesetzt, ist aber etwas langsamer unterwegs als ich. Dann komme ich ins Geröllfeld und es wird nochmals steiler. Der Schweiss fliesst recht flüssig und wegen der hohen Luftfeuchtigkeit ist der Kühleffekt eher mässig. – Ich schrecke eine Gämse auf, welche vor mir den Trail überquert und mich anpfeift. Sie flüchtet etwa 150 Meter und macht es sich dann auf einem Felsblock gemütlich.
Das letzte Stück des Aufstiegs mit Serpentinen hat es dann ziemlich in sich. Ich bin ziemlich am kämpfen und will mich am Pass mit Cola belohnen. Die Beiden hinter mir haben das Geröllfeld nun auch erreicht und machen bereits wieder Pause. Ich werde sie heute wohl nicht mehr sehen.
Nach 2:45h Marschzeit stehe ich auf der Bunderchrinde und erlebe den „Magic Moment“ dieses Projekts. Vor mir liegt ein Nebelmeer im Kandertal. Auf der gegenüberliegenden Talseite kann ich bereits das Hohtürli erkennen und dahinter erstrahlen Eiger, Mönch und Jungfrau. Der Endpunkt meiner Tour lässt sich also bereits erahnen.
Eine solche Belohnung für einen Aufstieg habe ich wohl noch selten erlebt. Ich geniesse den Moment und putze ein Cola weg, um Energie für den Abstieg zu tanken.
Und der Abstieg hat es dann anfangs ziemlich in sich. Es geht gleich wieder in ein Geröllfeld. Der Weg ist teilweise vom Gewitter letzte Nacht ausgewaschen oder von Kies überspühlt. Ich agiere vorsichtig, um keinen Sturz zu provozieren. Mental ist es etwas schwierig, da ich Gas geben möchte um möglichst rasch nach Kandersteg zu kommen. Damit ich aber sicher runter komme, braucht es einfach auch ein wenig Geduld.
Es kommen mir nun regelmässig Wanderer entgegen. Einige scheinen ziemlich zu leiden. Eine Asiatin fragt mich auf Englisch, wie weit es noch zum Pass sei. Mittlerweile wieder im Nebel unterwegs, fragen mich zwei Einheimische, ob oben Sonne sei. Das kann ich bejahen. – Der Nebel ist mir betreffend Sonneneinstrahlung recht, betreffend Routenübersicht ist es aber etwas mühsam. Ich kann meine Fortschritte und den weiteren Verlauf der Route nicht sehen und das nagt an meiner Psyche.
Es ist schon 11:45 Uhr, als ich den technischen (roten) Teil hinter mir habe und auf den gelben Wanderweg nach Kandersteg wechsle. Rund 5 Kilometer, also eine Stunde Wanderzeit trennt mich von dort. Das heisst, ich werde wohl erst nach 13:00 Uhr die Etappe zur Griesalp in Angriff nehmen können. Das kann heute 20:00 werden, bis ich dort ankomme! – Wär ich doch früher aufgestanden!
Ich komme gut vorwärts, habe aber gehörigen Respekt vor dem Aufstieg zum Hohtürli, welcher auf mich wartet. 1’600 Höhenmeter sind kein Zuckerschlecken, vor allem mit dem schweren Rucksack und der Vorbelastung der letzten beiden Tage. Ich fühle mich etwas abgekämpft und energielos. Als erste Massnahme in Kandersteg brauche ich Süssgetränke und etwas zu essen. Am liebsten wäre mir ein „Döner mit Alles“! – Mal sehen, was sich auftreiben lässt.
Silvia hatte gestern angeboten, ihre Anreise über Adelboden zu machen und im Hotel nicht benötigte Ausrüstung (Schlafen/Kochen) von mir abzuholen. Ich fand den Umweg nicht sinnvoll. Nun kommt mir aber der Gedanke, sie könnte in Kandersteg diese Sachen abholen. Kurzes Telefon mit Silvia. Ihr Zeitplan könnte den Umweg verkraften. – Nun muss ich nur noch eine Depotstelle finden.
Erste und zugleich beste Möglichkeit ist der Bahnhofskiosk. Ich kaufe Eistee, Schorle, Cola und ein Poulet-Schnitzelbrot. Beim Bezahlen trage ich gleich noch mein Anliegen betreffend Gepäckdepot für eine Stunde vor. Die Kioskfrau zeigt sich aufgeschlossen und ich darf meine Sachen hier lassen. Zuerst wird aber verpflegt. Ein Liter Eistee und das Schnitzelbrot wandern direkt in den Magen. Der Rest in den Rucksack. Schlafsack, Biwaksack, Matte, Kocher und Nahrung werden ausgepackt und abgegeben.
Kandersteg – Griesalp
Um 13:00 Uhr bin ich dann bereit für den zweiten Teil des Tages. Der Wegweiser zeigt 7:30h bis zur Griesalp. Das würde heissen, ich wäre um 20:30 Uhr dort. Etwas schneller bin ich normalerweise schon. Aber wieviel kann das jetzt sein?
Ausgangs Dorf eine grosse Baustelle am Öschibach. Ein Bergsturz oberhalb des Oeschinensees droht und eine Flutwelle wird dann ins Tal rauschen. Es wird deshalb eine riesige Menge Geschiebe aus dem Bach entfernt und es werden damit neue Dämme aufgeschüttet, um das Dorf vor der Welle zu schützen. Die Wanderwege sind deshalb teilweise umgeleitet.
Auf dem Weg zum Oeschinensee hat es dann erwartungsgemäss sehr viele Leute. Es fällt auf, dass viele Französisch sprechen. Das Welschland entdeckt das Berner Oberland! Der Weg führt häufig über eine Fahrstrasse und ist nicht besonders schön. Dafür komme ich gut vorwärts und das ist momentan die Hauptsache.
Den Oeschinensee erreiche ich dann nach einer Stunde, rund einen Drittel schneller als die Wegweiser Zeit. So muss es weitergehen! Der See ist wunderschön und auch toll gelegen. Es lohnt sich wirklich, den mal zu besuchen. Extrem ist aber die Masse der Leute hier oben. Restaurant, Ufer, Wege alles voll. Mir ist es grad etwas zu viel und ich bin froh, dass ich weiter und höher kann, wo es sicher wieder ruhiger sein wird.
Vom Oeschinensee aus kann man bereits die Blüemlisalphütte erkennen. Dort hoch muss ich. Ab hier gilt es noch 1’200 Höhenmeter zu überwinden. Das wären im Trail-Modus genau 2 Stunden. Ich hoffe, ich schaffe es heute unter 3 Stunden.
Der Trick ist, einen zwar zügigen, aber vor allem gleichmässigen und nachhaltigen Rhythmus zu gehen. Ziel ist, möglichst ohne Pausen in Bewegung zu bleiben. Da die Sonne nun wieder ungehindert scheint und es ziemlich heiss ist, kämpfe ich nun wieder ordentlich. Schöne Aussichten werden deshalb gerne als Ausrede genutzt, um kurz stehen zu bleiben und ein Foto zu schiessen.
Der Weg ist bis zum Berghaus Oberbärgli noch sehr familientauglich und entsprechend hat es auch viele Wanderer unterwegs. Die meisten sind allerdings zu dieser Zeit im Abstieg.
Ich bin zwar noch nicht an meinen Grenzen und komme immer noch gut vorwärts, aber es ist einfach sehr anstrengend und auszehrend. Ich kämpfe mich Schritt um Schritt nach oben und versuche vor allem zu trinken, trinken, trinken. Der Pass und die Blüemlisalphütte sind häufig im Blickfeld, was je nach Grundstimmung Fluch oder Segen ist. Ich versuche, mich mit schönen Gedanken abzulenken und Rahmschnitzel steht schon wieder sehr weit oben auf meiner Wunschliste fürs Nachtessen. Ob es wohl auf der Griesalp alkoholfreies Panaché gibt?
Das Schlimmste ist, wenn man alle zwei Minuten auf die Uhr schaut und die Höhenmesser sich einfach zu langsam bewegt. Ich lenke meine Aufmerksamkeit deshalb mehr auf die Umgebung. Und diese Umgebung hat die Aufmerksamkeit auch verdient. – Ich bin wahnsinnig beeindruckt vom alpinen Charakter dieses Aufstiegs. Der Weg verläuft auf der Seitenmoräne hoch über dem Talgrund. Auf der gegenüberliegenden Seite der Blüemlisalpgletscher. Die Landschaft sehr karg, aber eindrucksvoll.
Ich überhole zuerst zwei Mädels, welche auf der Blüemlisalphütte übernachten wollen und richtig am kämpfen sind. Dann noch zwei Bergsteiger, welche wohl morgen ab der Hütte ein Hochtour machen wollen. Es beruhigt mich, dass ich immer noch Leute überhole und nicht selber überholt werde. Ich bin zwar erschöpft, sonst habe ich aber eigentlich keine körperlichen Probleme. Einzig am unteren Rücken, wo das Gewicht des Rucksacks am Körper aufkommt, habe ich eine wunde Stelle. Diese habe ich gestern zum ersten Mal entdeckt. Sie ist wohl entstanden, da sich dort Schweiss, Salz und mechanische Beanspruchung in einem schlechten Verhältnis treffen.
Die letzten 200 Höhenmeter wie so oft noch mal richtig steil. Kurz nach 16:30 stehe ich dann auf dem Hohtürli. Eigentlich wollte ich noch kurz die paar Meter zur Blüemlisalphütte machen und dort Kaffee und Kuchen geniessen. Nun ist es mir aber zu spät und ich will nur noch runter. Ich nehme mir vor, bei anderer Gelegenheit mal wieder hier hoch zu kommen und den Kuchen nachzuholen.
Beim hochlaufen hatte ich mich über die vielen Leute geärgert, welche zwischen Pass und Hütte standen und den armen Wanderern beim Aufstieg zuschauten. – Nun merke ich, dass es gar keine Personen waren, sondern grosse Steinmanndli, welche den Weg zur Hütte markieren. Manchmal regt man sich über Sachen auf, welche gar nicht da sind.
Der Tag ist im Prinzip gelaufen. Die Herausforderungen liegen hinter mir. Ich habe es geschafft! – Allerdings warten nun nochmals 6km und 1’350 Höhenmeter Abstieg auf mich. Und jeder Bergsteiger weiss: Den Erfolg kann man erst geniessen, wenn man wieder gesund unten ist!
Der erste Teil ist mit Treppen und präpariert. Das passt mir gut, denn so kommt man rasch und sicher vorwärts. Ich bin froh um die Tragerleichterung, welche ich dank Silvia’s Gepäckdienst habe. Abwärts ist das noch fast wertvoller als aufwärts.
Der Abstieg ist ein umgekehrter Aufstieg. Zuerst geht es über Fels und Geröll, dann kommen die Alpweiden und am Schluss hat es wieder Wald. Ich will nur noch runter, den Rucksack ablegen, duschen und essen! – Ich freue mich bereits auf den morgigen gemütlichen Tag mit Silvia. Wenn alles klappt, sollten wir unterwegs noch Markus und Bruno antreffen, welche in entgegengesetzter Richtung auf der Via Alpina unterwegs sind.
Ich schreibe Silvia, dass sie mir ab 18:00 Uhr von der Griesalp entgegen laufen soll. Da der Handyempfang hier ziemlich mager ist, bin ich nicht sicher, ob meine Mitteilung ankommt. Umso grösser ist dann die Freude, als sie tatsächlich kommt und mich zum Hotel lotst.
Kurz vor 18:30 Uhr treffen wir beim Hotel ein. Die Uhr zeigt 34km und fast 10:30h Marschzeit. – Ich bin abgekämpft, aber sehr glücklich und dankbar für den heutigen Tag. Duschen und nachher Rahmschnitzel mit alkoholfreiem Panaché. Es gibt Tage, da passt einfach alles!
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