UTMB 2016 / Teil 3 – Courmayeur – Arnouvaz

Verpflegungsposten Courmayeur

Die Organisation ist wieder sehr UTMB-like, ganz klar strukturiert. Vor dem Sportzentrum bekommt man den Dropbag ausgehändigt. Diesen nimmt man dann mit und beim verlassen des Postens gibt man ihn beim Ausgang wieder ab. Im Eingangsfoyer ist die Zone, wo die Betreuer sich um die Läufer kümmern können. Es herrscht grosses Gedränge und aus meiner Sicht geht es ziemlich hektisch zu und her. Ich bin froh, dass ich gleich nach oben in die grosse Halle kann, wo die Verpflegungs- und Ruhezonen sind. Hier haben Betreuer keinen Zutritt und entsprechend ruhiger ist es.

Dropbag fassen

Dropbag fassen

Ich suche mir einen guten Platz in der Nähe des Ausgangs und des Buffets. Zuerst leere ich den Inhalt meines Dropbags auf den Boden und beginne mit dem umpacken. Ich ziehe ein neues Shirt an und packe zur Sicherheit noch ein Langarmshirt in den Rucksack. Die süssen Gels lasse ich gleich im Dropbag, auf die habe ich eh keine Lust. Dafür nehme ich ein paar salzige und vor allem noch zwei Knoppers in den Rucksack. Dann schmiere ich mich neu mit Sonnencrème ein. Die Beine lasse ich aus, da die so dreckig sind, dass eh keine Sonne auf die Haut kommt.

Als der Rucksack wieder gepackt und der Rest im Dropbag versorgt ist, gehts an die Verpflegung. Wasser und Nudelsuppe. Zudem versuche ich einen Mandel-Schokoriegel, welcher sehr lecker schmeckt. Einen Kaffee hätte ich mir auch noch fast gegönnt, verzichte dann aber drauf, was ich später bereue. Ich habe mich entschlossen, hier nochmals ein Powernap zu machen. Also Ausrüstung deponieren und den Ruheraum aufsuchen. Es wird grad eine Matte frei und ich stelle den Timer wieder auf 20 Minuten. Einschlafen kann ich nicht, aber trotzdem etwas entspannen und abschalten. Das aufstehen nachher klappt gut, es ist ja auch Tag und die Temperaturen sehr warm. Nach rund 45 Minuten verlasse ich den Posten wieder. Trotz Powernap habe ich hier 24 Positionen in der Rangliste gewonnen.

Zwischenzeiten

Zwischenzeiten

Courmayeur – Refuge Bertone (84 km / 5336 Hm)

Kurz vor Mittag bin ich also wieder auf der Strecke. Die Hitze ist drückend und ich habe kein Lust zu laufen. Die Läufer um mich werden durch Courmayeur von Betreuern begleitet. Die Strecke ist hier in der Stadt nicht abgesperrt und wir laufen etwas abenteuerlich über die Strassen und Kreuzungen. Ich will nachschauen, wieviele Höhenmeter es bis zum Refuge Bertone sind. Leider habe ich anscheinend mein Höhenprofil beim Posten liegen gelassen. Ich überlege kurz, ob ich zurück kehren und es holen soll. Ist mir aber die Mühe nicht wert. Viele Läufer haben eines dabei und ich kann mir eines ausleihen.

Körperlich geht es mir im Prinzip gut. Die Hitze schlägt aber aufs Gemüt und ich überlege mir, ob ich wirklich den Anstieg in Angriff nehmen soll. Ich könnte auch umdrehen, die Startnummer abgeben und mit dem Bus nach Chamonix fahren. Mental hat also der Powernap diesmal nicht wirklich positiv gewirkt. Das Refuge Bertone und das Refuge Bonatti üben auf mich einen gewissen Reiz aus. Ich möchte diese Hütten mal besucht haben. Deshalb marschiere ich weiter.

Der steile Aufstieg beginnt bald. Ich bin gut unterwegs und kann regelmässig Läufer überholen, während ich kaum überholt werde. Ich weiss immer noch nicht, ob Oli noch im Rennen ist. Ich überlege mir, Silvia ein sms zu schreiben, damit sie im Livetrail nachschauen kann. Meine Gedanken machen sich jetzt selbständig. Was wenn Oli tatsächlich draussen ist? Wenn ich auch stoppen würde, könnten wir heute gemütlich Nachtessen und morgen nach Hause fahren. Am Montag wäre ich dann ausgeruht im Geschäft. Wenn ich fertig laufe, dann komme ich erst am Montag Nachmittag nach Hause und kämpfe nachher mit dem Schlafmanko von zwei Nächten ohne Schlaf. Ich werde die ganze Woche nicht voll leistungsfähig sein. Macht es wirklich Sinn, dass ich hier Berg um Berg erklimme, den Blick immer auf den Boden vor mir gerichtet, ohne die tolle Landschaft geniessen zu können? Ist es verantwortungsvoll, wenn ich so viel Zeit und Energie in meine Abenteuer stecke, welche für Familie, Mitarbeiter und Kunden dann fehlt? Ich weiss vom Irontrail, wie ich mich die nächsten Tage fühlen werde. Ist es mir das wert? – Sind das rationale Gedanken oder einfach nur wieder Schlafmangel?

Aufstieg in der Mittagshitze zum Refuge Bertone

Aufstieg in der Mittagshitze zum Refuge Bertone

Ich kann die Gedankenspirale unterbrechen und marschiere weiter ohne Pause aufwärts. „Slow and steady“ ist das Motto. Die Hütte liegt auf nicht ganz 2000 müM. Das ist direkt oberhalb der Baumgrenze. Das heisst je höher wir kommen, desto dünner ist der Wald, desto weniger der Schatten. – Ein Hirsch röhrt. Dann nochmals. Der muss da direkt vor uns auf dem Trail stehen! – Ach, es ist kein Hirsch. Es ist ein Japaner, welcher sich immer wieder übergibt. Der Magen ist schon längst leer, aber er erholt sich nicht. Ein Läufer bleibt bei ihm und will ihm helfen. Ich ziehe vorbei. Er wird sich erholen, aber ich befürchte das Rennen ist vorbei für ihn.

Der Wald lichtet sich nun endgültig und nach ziemlich genau 90 Minuten habe ich die knapp 800Hm geschafft. Ich kann mich aber nicht richtig freuen. Eigentlich wäre das eine tolle Wanderung mit der Familie gewesen. Ich habe Lust auf ein Glace oder ein Bier auf der Sonnenterrasse. Stattdessen wird der Barcode auf meiner Startnummer gescannt, ich fülle die Wasserflaschen, nehme Nudelsuppe und als Belohnung zusätzlich einen Becher Tee. Dann suche ich sofort einen Schattenplatz. Die Hitze ist auch hier oben heftig.

Ich habe keine Lust, weiterzulaufen. Die Strecke führt zudem in einer Steigung weiter. Zeit das Handy zu zücken und mal Klarheit zu schaffen. Ich schreibe nach Hause an Silvia und frage nach Oli. Sie bestätigt mir, dass er in Les Chapieux ausgestiegen ist, wie er es mir dort angekündigt hatte. Ich schreibe ihr, dass ich überlege auch auszusteigen, was sie dazu meine. Ihr zweites sms kreuzt sich mit meinem. Sie meint es ist toll, wie ich von anfänglich Rang 2159 schon auf 1293 vorgelaufen bin. Dann die Antwort auf meine Anfrage: Für sie kein Problem, wenn ich aussteige. Ich muss das selber wissen. – Eigentlich könnte/müsste ich jetzt weiter. Der Anstieg schreckt mich aber immer noch ab. So lege ich mich für fünf Minuten hin und sinniere über meine Optionen. Will ich wirklich noch über den „Grand col Ferret“ und nachher über die „drei sinnlosen Hügel“, wie Martin Zwahlen sie mal genannt hatte? – Was ist der Sinn dahinter? – Werfe ich die Flinte vorschnell ins Korn?

Schlussendlich mache ich mich wieder auf den Weg. Marschieren muss ich von hier, ob ich aufgebe oder weiter mache.

Refuge Bertone – Refuge Bonatti (91 km / 5616 Hm)

Eigentlich wollte ich auf dem relativ ebenen Höhenweg zum Refuge Bonatti Tempo machen. Das ist mir nun aber verleidet. Ich nehme mir den Druck weg und will nun einfach gemütlich wandern und die Landschaft geniessen. Zum ersten Mal seit Saint-Gervais verliere ich hier Ränge.

Es gibt aber noch langsamere Läufer als mich und so laufe ich auf zwei Schweizer in Irontrail-Finisher-Shirts auf. Ich feixe sie an, sie müssten nicht den ganzen Weg versperren, nur weil sie mal den Irontrail geschafft hätten. Sofort sind wir im Gespräch, für mich zum ersten Mal in diesem Lauf, dass ich mich wirklich mit anderen Läufern austausche. Christian hat Probleme mit Krämpfen und kann nicht mehr laufen. Bruno geht es besser und er joggt uns nach einiger Zeit davon. Ich bleibe bei Christian und geniesse die Gesellschaft. Ich sage ihm, dass ich allenfalls aussteigen werde. Er meint, ich solle doch weitermachen.

Der Wanderweg ist sehr schön. Allerdings hat es hier zum ersten Mal im ganzen Lauf auch Touristen unterwegs. Touristen von vorne, schnelle Läufer von hinten. Es kommt wieder etwas Hektik auf. Ich lasse mich aber nicht stressen und versuche nochmals sachlich Vor- und Nachteile einer Aufgabe abzuwägen. Irgendwann laufe ich dann Christian davon und bald darauf steht meine Entscheidung fest. Ich werde noch bis ins Tal runter nach Arnouvaz weitermachen und dort den Lauf abbrechen. Die Entscheidung fühlt sich stimmig an.

Refuge Bertone

Refuge Bertone

Statt anderthalb Stunden wir geplant, habe ich fast zwei Stunden für diesen Streckenabschnitt benötigt. Beim Refuge Bertone treffe ich wieder auf Bruno und auch Christian trifft bald nach mir ein. Ich teile ihnen mit, dass ich unten im Tal abbrechen werde. Sie schütteln den Kopf und trauen meiner Entscheidung noch nicht. Bruno startet als erster wieder, ich als zweiter und Christian hinter mir.

Refuge Bonatti – Arnouvaz (96 km / 5721 Hm)

Für mich ist das Rennen gelaufen und ich mache mir Gedanken, was nun nachher folgt. Ich habe Lust auf eine kühle Glace, nachher Pizza zum Nachtessen. Und ein oder zwei Bier. Zuerst führt die Strecke auf dem Höhenweg weiter. Dann kommt der Downhill knapp 250 Hm runter ins Val Ferret.

Die letzten Meter vor der Aufgabe. Gelöste Stimmung.

Die letzten Kilometer vor der Aufgabe. Gelöste Stimmung.

Mir geht es gut und ich geniesse die letzten Kilometer. Immerhin so habe ich gegen 100km und über 5’700 Höhenmeter geschafft. Vor zwei Jahren wäre ich wegen dieser Leistung noch ausgeflippt. Ich bin froh und dankbar, dass ich weder muskuläre Probleme, noch Fusssohlenbrennen oder ähnliche Probleme habe. Ich denke ich habe das Rennen gut eingeteilt und die Chancen auf einen erfolgreichen Finish waren sehr gut.

Als ich beim Verpflegungsposten eintreffe, teile ich der Postenchefin gleich mit, dass ich stoppen will. Sie meint ich solle doch noch etwas essen und dann nochmals versuchen, ich hätte ja noch 1:45h bis zur Cut-Off-Zeit. Ich teile ihr mit, dass ich noch weitermachen könnte, aber nicht möchte und sie schneidet mir den Barcode von der Startnummer. Dann fresse ich mich gemütlich durch den Verpflegungsstand. Ich kann mich noch von Bruno und Christian verabschieden, welche meinen Entscheid noch immer nicht verstehen. Christian gebe ich meine Magnesium-Pülverchen mit und hoffe sie helfen gegen seine Krämpfe. Die beiden laufen am Sonntag im Ziel ein, nachdem ich schon aus Chamonix abgereist bin.

Viele Läufer liegen hier wie tote Fliegen im Schatten und versuchen wieder zu Kräften zu kommen. Ich kann ihnen leider nicht helfen. Einen UTMB-Finish gibt es aber nicht gratis und ich denke viele von ihnen werden sich erfolgreich bis ins Ziel durchbeissen. Zeit ist noch genügend da.

Nach dem Lauf

In Arnouvaz gibt es ein kleines Restaurant und dort kaufe ich mir gleich eine Glace. Dann mit dem Bus zurück nach Courmayeur und von dort mit einem Car durch den Mont Blanc-Tunnel. Vor dem Tunnel hat es leider Stau und so braucht es etwas Geduld. Nach 20:00 Uhr komme ich in Chamonix an. Ein Gewitter zieht auf und es beginnt zu regnen, als ich aus dem Bus steige. Ich hole gleich meinen Dropbag ab und dann ins Hotel, wo ich Oli treffe. Kurze, aber tolle Dusche und dann geht es zu Pizza und Bier. Wir sitzen unter einem Vordach im freien und können den Finishern applaudieren und das eindrückliche Gewitter beobachten. Mir geht es gut mit meiner Entscheidung.

Am Sonntag gehen wir noch kurz zum Zielbogen. Mein Wehmut hält sich in Grenzen. Klar wäre ich gerne hier durchgelaufen. Ich kann das aber später noch nachholen. Jetzt freue ich mich erstmal auf das wiedersehen mit meiner Familie und das Geburtstagsfest meines Göttibuebs Levin, welches durch den Finish verpasst hätte. Und morgen kann ich ausgeruht und mit Freude in die neue Arbeitswoche starten.

Chamonix, hier hat es mir gefallen! Ich werde zurückkehren und durch den UTMB-Zielbogen laufen!

Mont Blanc und Zielbogen werden auf mich warten!

Mont Blanc und Zielbogen werden auf mich warten!

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