Engelberg – Surenpass – Altdorf
Die eine Stunde Ruhe tut mir gut. Ich schlafe zwar nicht richtig ein, aber im weichen Bett kann ich gut entspannen und etwas regenerieren. Andrea weckt uns und ich mache zuerst Toilettenpause. In Socken, verschwitzt und stinkig komme ich mir dann wie ein Ausserirdischer vor, als ich die Touristen kreuze, welche zum Frühstück strömen. Wir haben zum Glück einen separaten Raum für uns und stören niemanden. Beim Kaffee gibt es das nächste Briefing durch Feldweibel Karin:
- Wo sehen wir die Betreuer wieder? – Etappenort Altdorf mit dem ganzen Run for Hope-Team
- Wie weit ist es bis dort? – ca. 30km
- Wie lange benötigen wir? – 6 bis 7 Stunden (Ankunft ca. 16:00 Uhr bis 17:00 Uhr)
- Passübergang? – Surenpass, 2289 müM, Aufstieg knapp 1300Hm
Füsse nochmals eincrèmen, kurze Hosen montieren, Shirt wechseln und bereit wäre ich. Die Frauen haben ein paar Minuten länger, sehen dafür auch besser aus. Ziemlich genau um 10:00 Uhr machen wir uns auf den Weg. Brigitte wieder voraus, Anja als zweite, ich zuhinterst.
Es wäre ein toller Wandertag. Doch Brigitte ist es nicht nach wandern zu mute. Sie will mehr und beginnt schon bald zu joggen. Anja folgt natürlich ohne Probleme. Abwärts geht es bei mir auch, flach ist schon etwas mühsam, doch als sie dann auch die leichten Steigungen joggen, beginnt mein Kampf. Aber ich kann mich unmöglich beschweren, da die beiden ja konstant 170 Kilometer Vorsprung auf mich haben! Ich versuche einfach dranzubleiben und hoffe, dass es bald steiler wird und wir powerwalken „müssen“.
Das Frontpack an meinem Rucksack vereinfacht die Joggerei auch nicht gerade. Lange hatte ich überlegt, ob ich es mitnehmen soll. Schlussendlich war es die richtige Entscheidung, da ich raschen Zugriff auf Stöcke, Handy, Verpflegung usw. habe. Ich bin überhaupt glücklich mit dem neuen Raidlight 20 Liter-Rucksack. Sehr bequem und praktisch. Auch die Hoka-Schuhe sind wie immer super. Bequem, griffige Sohle, passt einfach!
Nach der Talstation der Fürenalp-Bahn wird es dann endlich etwas steiler und das Tempo wieder erträglich für mich. Es hat heute viele Wanderer unterwegs und wir sind deshalb viel am überholen. Ich überlege mir, dass alleine die Wanderung von Engelberg nach Altdorf schon eine rechte Tagesleistung wäre. Man muss schon ein paar Tassen locker haben, um zusätzlich auch noch möglichst die Nacht durchzulaufen und die ganze Sache über mehrere Tage zu wiederholen! – Es ist aber faszinierend, wie viel möglich ist.
Ich kann nur mehrmals erwähnen, wie sensationell die Landschaft ist. Es ist ein wunderbarer Tag und ich geniesse es einfach, hier draussen zu sein. Sehr erfreulich ist auch, dass meine Füsse super auf die Fusscrème ansprechen und die Schmerzen vollständig verschwunden sind. Unser Tempo ist sehr flüssig und wir machen praktisch keine Pausen. So macht es Spass und die Stimmung ist gut.
Unterhalb des Surenpasses sehe ich nach langer Zeit wieder mal ein Murmeltier in freier Wildbahn. Wir sehen auch Wanderer, welche Wildtiere (Gämsen?) beobachten. Für uns heute aber kein Grund um anzuhalten. Brigitte regt sich über eine grosse Gruppe Italiener auf, welche nicht Platz machen, als wir sie überholen.
Je höher wir steigen, desto steiler wird es. Ich merke, dass ich Mühe bekomme, das Tempo durchzuziehen. Mit der Muskulatur habe ich keine Probleme, aber der Kreislauf mag irgendwie nicht mit. Das ungenügende Training der letzten Wochen beginnt sich zu rächen. Ich versuche, den Kontakt zu den Mädels nicht zu verlieren und kämpfe über rund 300 Höhenmeter. Als wir den Surenpass dann fast erreicht haben, lass ich die beiden ziehen und gehe langsamer um mich zu erholen.
Wir machen kurz Pause, essen etwas und dann geht es weiter. Abwärts geht es tiptop und wir lachen viel. Vor allem über die Geschichte mit dem „Läufer“ auf der Engstlenalp letzte Nacht. Jeder erzählt sie aus seiner Perspektive und es kommen immer neue Details hervor.
Meine Füsse beginnen langsam wieder zu schmerzen. Die Wirkung der Fusscrème lässt nach und die Risse öffnen sich wieder. Ansonsten geht es mir körperlich gut. Ich bin bald bei 80 Kilometern. So viel habe ich dieses Jahr noch nie gemacht.
Der Abstieg hat einige knifflige Stellen und auch Gegenanstiege drin. Abwärts läuft Anja wieder vorne, Brigitte lässt sich etwas ziehen und ich mache den Schluss. Ich marschiere lieber aufwärts, als abwärts und leider lässt sich hier abwärts kein Tempo machen. Ich mache mir Sorgen um den Gesamtzeitplan des Projekts. Ich zweifle etwas, ob es möglich ist, bis Sonntag Abend Vaduz zu erreichen.
Ich hadere mit mir, dass ich mit so wenig Training hergekommen bin. Ich kann die Frauen nicht mehr unterstützen und wahrscheinlich werde ich ihnen am nächsten Berg (Klausenpass) sogar zur Last fallen. – Wie blöd bin ich eigentlich, dass ich mich hier für eine Strecke von weit über 100 Kilometer angemeldet habe. Das müsste mir ja klar gewesen sein, dass dies momentan weit ausserhalb meiner Reichweite liegt. – Es darf auf keinen Fall sein, dass ich wegen meiner Blödheit, Brigitte bremse. Es ist zwar etwas peinlich, aber ich werde in Altdorf aussteigen, damit Brigitte und Anja ungehindert vorwärts kommen.
Mit meinen negativen Gedanken kämpfe ich mich durch den Downhill nach Attinghausen. Es ist steil und teilweise führt er über eine „Römerstrasse“, das heisst einen Weg welcher mit grossen Steinen gepflastert ist und sehr mühsam zu gehen ist. Anja und Brigitte führen eine mentale Liste mit Beschwerden zur Via Alpina, welche sie am Ende an SchweizMobil senden wollen. Dieses Stück kommt auch auf diese Liste. Endlich sind wir dann im Tal und müssen dieses noch bis Altdorf rüber queren. Ich bin froh, dass nun auch Brigitte wieder etwas müder scheint und ich marschieren darf.
Ich überlege mir, wie ich meinen Ausstieg kommunizieren will. Eigentlich möchte ich es Brigitte möglichst sofort sagen, getrau mich aber nicht, da ich ihre Reaktion nicht abschätzen kann. Vielleicht ist es besser, wenn ich am Posten zuerst mit Karin spreche und ihr meine Situation und die Befürchtungen schildere. Sie ist die Vertrauensperson von Brigitte und kommuniziert sicher einfacher mit ihr.
Anja fällt etwas zurück und ich warte auf sie. Sie macht sich anscheinend auch Gedanken über den Zeitplan und meint wir würden es bis Sonntag 18:00 Uhr nicht bis Vaduz schaffen. Wir müssten wohl einfach bis 18:00 Uhr marschieren und dann denn Lauf dort abbrechen. – Anja hat die Situation, dass ihre Familie am Sonntag kommt und sie abholt. Deshalb geht ihr die Zeit aus. Bei mir wäre es genau gleich, da ich am Montag früh wieder fit im Betrieb stehen muss bzw. will.
Ich nutze die Gelegenheit und offenbare Anja, dass ich hier aussteigen werde, um das Projekt bzw. die beiden Wunderläuferinnen nicht zu bremsen. Sie meint das käme auf keinen Fall in Frage und ich würde sie sicher nicht bremsen. Ich freue mich natürlich, dass sie mich weiterhin dabei haben möchte, will aber den Projektfortschritt nicht gefährden.
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Situation mit Brigitte zu besprechen. Ich muss eh zu ihr, da ich die Skizze mit dem Treffpunkt auf dem Handy habe. Also wieder nach vorne zu ihr. – Ich schildere ihr die Situation und auch sie meint, ich müsste dabei bleiben. Ich geniesse die Zeit mit den beiden und dem ganzen Team total und mache deshalb gerne weiter. Ich werde versuchen, es auf den Klausenpass oder bis Linthal zu schaffen. Falls ich zu langsam bin, lasse ich sie ziehen und schlage mich alleine bis zum nächsten Treffpunkt durch. Spätestens morgen früh in Linthal wird dann für mich fertig sein.
Irgendwann nach 16:30 Uhr treffen wir dann in Altdorf ein. Das gesamte Team inklusive Brigittes Schwester Susanne sind vor Ort. Ein Journalist der Urner Nachrichten ist hier und macht ein kurzes Interview mit Brigitte. – Was fehlt ist das kühle alkoholfreie Bier, auf welches wir uns so gefreut haben. Der erste (und einzige) Fehler unserer Betreuerinnen! Andrea korrigiert das aber sofort.
Nach Interview und Bier geht es ins Hotel Höfli zum Essen. Es gibt ein super „Pot auf feu“ und ich fülle meine Flüssigkeitstanks mit Eistee. Karin und Andrea sind sehr zuversichtlich, dass es Brigitte bis Vaduz schaffen kann. Ich bin immer noch kritisch, aber wenn wir es nicht versuchen, ist es eh nicht möglich.
Hier stehen uns keine Betten zum ausruhen zur Verfügung, dafür der Rasen direkt vor der Gartenwirtschaft. Es ist ein wunderbar warmer Spätsommerabend und deshalb passt das hier auf dem Rasen. Etwas erstaunt registriere ich, dass Frau „Eine-Daunenjacke-reicht-zum-schlafen!“, einen Schlafsack ausbreitet. Ich packe meinen Biwaksack als Unterlage aus und versuche möglichst rasch etwas Ruhe und Regeneration zu finden. Vorher natürlich wieder die Füsse eincrèmen.
Kommentare sind geschlossen.